Das Mädchen aus dem Meer: Roman
Erklärungen einfallen zu lassen. Aber das war nicht der Sinn der Sache.
»Wenn deine Geschichte wahr ist«, sagte er darum nach einer Weile und sah sie mitfühlend an, »wäre es dann nicht schön zu wissen, dass dort oben irgendjemand ist, der gerade jetzt über die Seelen all jener wacht, die die Welle dir entrissen hat? Über deine Brüder und deine Eltern und deine Freiheit? Und über Cocha?«
Er sah ihr an, wie sie sich um eine Antwort wand, aber letztlich hob sie hilflos die Schultern und nickte vorsichtig. »Ja. Nein. Vielleicht«, gestand sie leise.
Froh schlang einen Arm um ihre nunmehr zitternden Schultern und zog sie tröstend zu sich heran. »Die Wahrscheinlichkeit dafür«, flüsterte er zuversichtlich, »ist unendlich hoch.«
23
E in paar Mal habe ich wirklich fast … geglaubt .
Erzähl mir davon. Und lass uns dabei hier entlanggehen. Gib acht auf deine Schritte.
Später, Froh. Sei nicht immer so ungeduldig.
Zunächst einmal hatten Cocha und Golondrin mich an diesen unterirdischen See geführt, wo Laris mir seine Geschichte erzählte. Natürlich glaubte ich ihm zunächst kein Wort. Ich wollte es nicht wahrhaben, denke ich. Als ich all diese mangelhaften Kreaturen erblickt hatte, die da unter Dutzenden Metern offenbar doch nicht ganz massivem Gesteins vor sich hinsiechten, da hatte ich gedacht: Ich muss hier raus, und ich werde Cocha zuerst verraten und dann vergessen – und vor allem wollte ich dafür sorgen, dass man diese bedauernswerten Gestalten einsammelt und nach Walla bringt. Dann erzählte Laris, was ihm angeblich widerfahren war, und ich dachte: Ich werde Cocha aufklären und irgendwie aus der Nummer rausreden, denn er kann nichts dafür, dass er so dumm ist, dass er diese haarsträubende Geschichte dieses Mannes glaubt, der in meinen Augen nichts anderes als ein flüchtiger Verbrecher mit enorm viel Fantasie und einem beeindruckenden Maß an Überzeugungskraft war. So wie vermutlich die meisten anderen dort unten. Was schließlich sollte einen vernunftbegabten Menschen dazu bewegen, diese feuchte, dunkle, stinkende Grotte der vollkommenen Sorglosigkeit in Walla vorzuziehen, wenn nicht die Tatsache, dass er Gefahr lief, für irgendein Verbrechen zum Tode verurteilt oder sehr, sehr lange eingesperrt zu werden, sobald er dieses Rattenloch verließ?
Natürlich war das nicht besonders klug von mir. Immerhin befanden sich auch Kinder unter den Kranken und Krüppeln. Was sollte ein Säugling Schreckliches verbrochen haben, dass man ihm im offensichtlichen Bedarfsfall sein Recht auf Walla verweigern könnte?
Aber ich hatte gerade erst angefangen, Cocha zu glauben, was die eingeschränkten Fähigkeiten – und vor allem die Skrupellosigkeit – unserer hochgelobten Körperkundigen anging. Ja, ich weiß: Cocha gegenüber hatte ich stur auf meiner Herz-von-einem-Toten-These bestanden. Aber insgeheim hatte ich s chon noch weiter darüber nachgedacht. Mir jetzt auch noch d ie Illusion von Walla nehmen zu lassen, wäre auf jeden Fall zu viel auf einmal gewesen.
Überhaupt ging es mir ja nicht wesentlich besser als den meisten anderen hier unten. Mein Kleid war in einer Naht gerissen und an den Ellbogen aufgescheuert. Bei jeder Bewegung tat mir irgendetwas weh. Ich war übersät mit Prellungen und Schrammen, und das Blut, das aus meiner Nase gelaufen war, klebte noch immer an meiner Oberlippe. Am liebsten hätte ich Laris gar nicht bis zum Schluss zugehört (zumal ihm der Siech sogar aus der Stimme triefte), sondern wäre fortgerannt, so schnell ich konnte. Aber weil ich den Weg nicht kannte, fiel diese Option ja leider aus.
Cocha hatte mich während der ganzen Rede ruhig, aber aufmerksam beobachtet, was mir natürlich keineswegs entgangen war. Ich hatte mich bemüht, keine Miene zu verziehen. Ich meine: Abgesehen davon, dass ich nach wie vor bis über beide Ohren verliebt war und vor wenigen Augenblicken entschieden hatte, ihn doch nicht verurteilen zu lassen, sondern irgendwie anders von diesen schrecklichen Menschen wegzuholen, war ich ihm hier unten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Wenn ich jetzt seinen Unmut auf mich zog, fürchtete ich, dann würde er mich einfach in den See stoßen und Fersengeld geben, auf dass ich hier versauerte oder elendig im Labyrinth verdurstete.
Heute weiß ich, dass er zu so etwas Bösem gar nicht fähig wäre. Aber damals kannte ich ihn noch nicht so gut. Ich war verliebt, aber streng genommen wusste ich noch gar nicht, in wen – wenn du verstehst, was
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