Das Mädchen aus dem Meer: Roman
weitere Menschen lebten allein im Schutz der Felsen – und Tausende an anderen versteckten Orten, tief in den Wäldern, in anderen Höhlen, in der Steppe von Forck … Vor allem aber auch in den Dörfern und Städten, und – ich konnte es kaum glauben – sogar in den Palästen.
Die Paradieslosen, wie sie sich nannten, existierten seit Jahrzehnten im Untergrund. Cochas Mutter unterstützte sie schon seit ihrer eigenen Zeit in Silberfels – daher kannte er ihre Geheimnisse. Einige von ihnen waren wirklich Verbrecher, die der Zivilisation, auf der Flucht vor ihrer mehr oder minder gerechten Strafe, den Rücken gekehrt hatten, andere waren von wiederum anderen vor Walla, dem Massengrab, gerettet worden. Das waren jene, die in der Grotte gepflegt wurden. Aber die meisten hatten in Silberfels gelernt, wie Milla, oder waren eng mit einem ehemaligen Novizen befreundet. Sie hatten sich auf die Navigation, die Astronomie oder sonst etwas spezialisiert und gingen einem augenscheinlich gewöhnlichen, geregelten Leben nach. Tatsächlich jedoch warteten sie seit Generationen, in denen die Organisation immer weiter gewachsen war, auf ihren großen Moment: Den Moment, in dem sie genug waren, um eine umfassende Revolte zu riskieren. Dem Augenblick, in dem irgendjemand kam, der das Zeichen zum Umbruch gab.
Apropos Zeichen: Was Cocha mir da erzählte, klang natürlich zunächst abstrus. Aber ich konnte mich schnell selbst davon überzeugen. Und dazu musste ich lediglich mit offenen Augen durch die Gegend ziehen, denn Cocha hatte mir das Zeichen verraten. Wenn die Paradieslosen einander begegneten, oder um herauszufinden, ob es an diesem Ort hier andere Paradieslose gab, dann machten sie eine unscheinbare Geste. Sie spreizten den kleinen Finger der rechten Hand ab und winkelten die Hand dabei ganz kurz an. So, siehst du …
Man musste wirklich darauf achten, um es zu erkennen, aber als ich einmal wusste, wonach ich suchen sollte, sah ich es überall. Während ich auf meinem Karren über das Pflaster ratterte, erblickte ich es in nahezu jeder Straße – insbesondere, wenn Cocha bei mir war. Zahllose Jungen und Mädchen machten das Zeichen; natürlich auch viele der Novizinnen, von denen ich geglaubt hatte, dass sie Cocha neben mir so anstarrten, weil sie heimlich für ihn schwärmten. Sogar ein paar der Lehrmeister benutzten das Zeichen – und sogar einer meiner Krieger!
So wie mindestens jeder zehnte Krieger in Hohenheim, wie Cocha mir glaubhaft versicherte. Der Umbruch war so nah, und weder mein Vater noch die anderen Faronen hatten auch nur die geringste Ahnung.
Was auf jeden Fall so bleiben musste, wie Cocha sagte, als ich ihm anbot, mit meinen Eltern über Alternativen zu reden. Ich meine: Warum ein einwandfrei funktionierendes Gesellschaftssystem urplötzlich umwälzen und dabei vielleicht sogar einen Bürgerkrieg riskieren, wenn sich die Dinge vielleicht ganz einfach mit Worten und ein paar neuen Regeln und Gesetzen in Ordnung bringen ließen?
Natürlich war ich enttäuscht von meinem Vater, der das herrschende System der gnadenlosen Selektion nach Nutzen und Unnutzen für den Staat ebenso unterstützte wie alle, die vor ihm an der Macht gewesen waren, und alle, die neben ihm über den Kontinent herrschten. Und irgendwann würde man von Sora erwarten, dass er diese menschenverachtenden Machenschaften in althergebrachter Form weiterführte – allein die Sterne wissen, wie mein Vater ihn davon überzeugen wollte.
Aber obwohl ich mich nie für Politik interessiert hatte, war ich davon überzeugt, dass mein Vater das, was er tat, keineswegs gern tat, sondern aus reinem Verantwortungsgefühl für den Großteil der Cyprier handelte. Ich meine: Die meisten Menschen profitieren ja von der Mär von Walla. Wer soll die Alten und Kranken und Dummen denn tatsächlich pflegen? Wer soll für ihre medizinische Versorgung und ihren Unterhalt aufkommen? Und vor allem: Wer soll sie daran hindern, sich letztlich noch zu vermehren und so ihre vielfältigen Mängel laut Vermehrungslehre an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben? Ich musste ja nur an meine Schwester denken, um zu wissen, wohin so etwas führen konnte. Ich habe nur Glück, dass ich als einziges Kind meines Vaters keinen seiner Mängel geerbt habe.
Jedenfalls: Cocha wusste auf meine Fragen immerzu eine plausible Antwort. Er sprach von Abgaben und von Umverteilung, und auch, wenn ich mir seine Erläuterungen im Detail meist nicht einmal bis zum nächsten Abend merken
Weitere Kostenlose Bücher