Das Mädchen aus dem Meer: Roman
konnte, wusste ich, dass er sehr wohl etwas von den Dingen verstand, über die er sprach. Ich war sicher, dass nur jemand wie er zu meinem Vater gehen und ihm seine Alternativen zu der riesigen Walla-Lüge unterbreiten musste. Mein Vater konnte sehr hart sein, wie er im Umgang mit meinem Bruder allzu lebhaft unter Beweis gestellt hatte. Aber er war durchaus in der Lage, begangene Fehler zu erkennen, daraus zu lernen und sich in Wiedergutmachung zu üben – auch das hatte er bewiesen.
Cocha glaubte jedoch nicht daran. Es sei sicherer, so sagte er, noch ein wenig abzuwarten; wenigstens so lange, bis Sora oder ich das Erbe unserer Eltern antraten. Aber was in diesen Wochen noch schlimmer war, war, dass er außerdem nicht daran glaubte, dass Kratt, der hier in Silberfels die Fäden für die Paradieslosen zog, mir über den Weg trauen würde. Für Kratt war ich nur die Tochter meines Vaters, und mein Vater war ihm unter allen Faronen Cyprias der größte Feind. Cocha befürchtete, dass Kratt mich unverzüglich in der Grotte ertränken würde, wenn er erfuhr, dass ich eingeweiht war, und darum durfte niemand wissen, dass ich eigentlich schon dazugehörte. Deshalb durfte ich auch das Zeichen nicht machen.
Ich war dabei und trotzdem ausgeschlossen. Wie eigentlich immer in meinem verkorksten Leben. Und ich wünschte, ich wäre ein stinknormales Bürgerkind gewesen, das nur andächtig genug nicken und wissend lächeln musste, damit man ihm vertraute.
Na ja. Wenigstens Cocha hatte volles Vertrauen zu mir und meiner Loyalität. Dass ich ihm so ungebührlich auf die Pelle gerückt war, hatte er mir recht schnell verziehen. Mein Misstrauen hatte ihn gekränkt, und daraus machte er auch keinen Hehl. Außerdem war er nach wie vor der Meinung, dass es besser gewesen wäre, wenn ich von den Paradieslosen nie (oder zumindest nicht so früh) erfahren hätte, weil er sich um mich sorgte. Aber ich hatte mich nicht getäuscht: Cocha war ebenso in mich verliebt wie ich in ihn, und wir kamen uns immer näher, je mehr Zeit wir miteinander verbrachten – was wir so häufig wie möglich taten. Und immer dann, wenn niemand hinsah, nahm er mich bei der Hand oder streichelte mir sanft durchs Haar oder küsste flüchtig meine Stirn oder meinen Nacken …
»Cocha, du prostituierst dich«, bemerkte Mikkoka gehässig, als sie ihn einmal dabei beobachtete, wie er mir unauffällig einen Kuss aufs Ohrläppchen hauchte. »Es gibt auch andere Lösungen.«
Für diese Gemeinheit hätte ich ihr nur zu gern die Schneidezähne bis in den Dünndarm geprügelt. Aber sie sagte es im Tanzhaus, sie war stärker als ich, und meine Krieger warteten draußen. Ernsthaft nachgedacht habe ich über ihre Worte aber nicht. Meine Liebe zu Cocha war und ist grenzenlos, und ich vertraute ihm inzwischen ebenso bedingungslos wie er mir.
Bis ich ihn bei einem persönlichen Besuch beim Dekan im späten Herbst nachdrücklich für die bevorstehende Exkursion zu den Kerichellen vorschlug, an der natürlich auch ich teilnehmen wollte. Das Mani bot nur Platz für zwanzig ausgewählte Novizen und Novizinnen, die sich die Teilnahme an diesem Abenteuer in eine fremde Welt durch außergewöhnliche Leistungen erarbeiten mussten. Unter den besten Hundert entschied letztlich das Los.
Aber auch hier stand ich natürlich einen Deut über dem Gesetz, und ich machte von meinen besonderen Privilegien Gebrauch und freute mich unwahrscheinlich darauf, den Ozean auf einem Schiff mit Cocha zu bezwingen – nicht zuletzt, weil es mir außerdem gelungen war, zwei Einzelkajüten zu erstreiten, die noch dazu gleich nebeneinander lagen. Wir würden die Primitiven auf den Kerichellen besuchen, und vielleicht durften wir uns ihnen sogar zeigen. Dann könnten wir würdevoll als Gott und Göttin den Strand entlangschreiten und das maßlose Glück in den Augen der Erwachsenen und das ungläubige Staunen in den Gesichtern ihrer Kinder sehen. Sie würden uns mit Gold und hübschen Dingen aus Elfenbein und Halbedelsteinen überschütten und uns ihre berechtigte Ehrfurcht in Liedern und Tänzen offenbaren.
Würdevoll?
Damals dachte ich noch so.
Das Allerbeste aber war, dass meine elenden Aufpasser in Silberfels bleiben mussten. Das Mani hatte seine eigene Besatzung, und für zusätzliche Leute war kein Platz. So würde es uns ein Leichtes sein, nach Sonnenuntergang aufs Deck zu schleichen, in den Himmel hinaufzublicken und die Sterne zu zählen. Ich würde versuchen, die Klappe zu halten und nichts
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