Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
kamen, war der Boden noch durchweicht, aber die Sonne hatte bereits begonnen, die Lachen zu trocknen.
Trotz der wenigen Stunden, die sie geschlafen hatte, fühlte sich Reeva hellwach und ausgeruht. Während sie die ersten Patienten versorgte, rückte auch das böse Erlebnis des vergangenen Abends in den Hintergrund. Fröhlich lächelte sie einer Frau zu, die guter Hoffnung war: Bald würde diese einen kräftigen, gesunden Sohn gebären, wie das Mädchen wusste.
Nach einer kurzen Mittagspause stürzte sich Reeva wieder in ihre Arbeit. Eifrig mischte sie einen Tee aus herb duftenden Kräutern, reichte ihn einer älteren Bauersfrau, wandte sich dem nächsten Patienten zu – und ihr war, als wäre plötzlich eine Gewitterwolke vor die Sonne gezogen. Sie erkannte die hünenhafte Gestalt und den rötlichen Bart sofort. Im selben Moment begann der Schmerz in ihrer geschwollenen Unterlippe wieder zu pochen, der zuvor bereits abgeklungen war.
Reeva zwang sich, dem grobschlächtigen Bauern direkt in die Augen zu schauen, und fragte mit zitternder Stimme: „Kann ich etwas für dich tun?“
Sie bemerkte, dass das Hemd des Mannes schweißdurchtränkt war: Offenbar hatte er den Weg hierher in größter Eile zurückgelegt. In seinem Blick mischte sich Feindseligkeit mit Abscheu, während er knurrte: „Ihr Weiber müsst mit mir kommen und nach meinem Sohn sehen. Niemals hätte ich euch darum gebeten“, fügte er gehässig hinzu, „ich hätte euch nicht einmal in die Nähe meines Jungen gelassen. Aber es geht ihm sehr schlecht, und meine Frau liegt mir schon den ganzen Morgen damit in den Ohren, dass ich euch holen soll.“
Durchdringend starrte er das Mädchen an, als wollte er es warnen, sich nur ja nicht zu weigern und seiner Bitte gefälligst nachzukommen. Innerlich sträubte sich Reeva tatsächlich dagegen, diesem Menschen einen Dienst zu erweisen; dann aber sagte sie sich, dass sie ja nicht ihm, sondern seinem Kind helfen sollte. Rasch holte sie Enva herbei, um ihr die Angelegenheit zu erklären. Die Alte schwieg und presste die Lippen zusammen, doch sie ergriff ihr Bündel und folgte dem Bauern, der mit langen Schritten vorneweg marschierte. Kein einziges Mal drehte er sich zu den Heilerinnen um, als wäre ihm schon allein ihr Anblick unerträglich.
Bei dem schnellen Tempo geriet Reeva bald außer Atem, doch der Weg erschien ihr längst nicht so weit wie in der Nacht, bei Regen und Sturm. Früher als erwartet kam das Bauernhaus in Sicht, das einsam zwischen den Wiesen und Feldern lag. Noch bevor sie es ganz erreicht hatten, flog die Tür auf, und eine erschöpft wirkende Frau stürzte heraus. Sie schien ungeduldig am Fenster gestanden und auf ihr Kommen gewartet zu haben; nun eilte sie auf sie zu und musterte die Alte und das Mädchen von Kopf bis Fuß. Schließlich fragte sie an ihren Mann gewandt:
„Sind das die beiden von gestern Nacht? Sie sollen sich beeilen, um Gottes willen, und schnell hereinkommen! Es wird immer schlimmer mit dem Kleinen.“ Schon wirbelte sie herum und lief ins Haus zurück, während Enva und Reeva vom Bauern hinterhergescheucht wurden.
Im Innern des Hauses war es kühler als im Freien, aber dennoch schien Reeva die Luft unerträglich drückend und schwer zu sein. Wie ein Hund, der Angst wittern kann, glaubte sie hier die Krankheit zu spüren, die den ganzen Raum erfüllte. Die Bäuerin packte das Mädchen am Arm und zerrte es in einen Winkel der Stube; dort stand eine geflochtene Wiege, in welcher der kleine Junge lag.
Reeva erschrak, als sie den Säugling sah. Wenn er vor Schmerz geschrien hätte, wäre ihr bei seinem Anblick nicht so unwohl zumute gewesen; doch er lag apathisch in seinem Bettchen, schwer atmend und röchelnd. Das kleine Gesicht war verquollen vom Fieber, die halb geschlossenen Augen wirkten glasig.
„Was steht ihr nur herum und haltet Maulaffen feil? Dafür habe ich euch wahrlich nicht hergeholt! Also hört gefälligst auf zu glotzen, und macht meinen Jungen wieder gesund!“, grollte der Bauer drohend.
Dann ließ sich plötzlich die Stimme der Bäuerin vernehmen; sie sprach leise und wie zu sich selbst: „Es ist unser einziger Sohn. Viermal schon sind meine Kinder tot zur Welt gekommen. Es ist unser einziger Sohn …“
Hastig nahm Reeva die Decke des Kleinen weg, zog ihm das Hemdchen aus und wollte schon anfangen, ihn zu untersuchen; doch da schob Enva sie unsanft zur Seite. „Nein, Reeva, das werde ich tun“, sagte sie beinahe grob, während sie den
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