Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
Pflanzen kann man bald erlernen, doch nicht jedem ist es gegeben, Menschen gesund zu machen.“
„Und ich? Habe ich die Gabe, zu heilen?“, fragte Reeva vorsichtig.
Enva lächelte, sodass ihr Gesicht sich mit zahllosen Runzeln überzog. „Hätte ich dich zu meiner Nachfolgerin bestimmt, wenn dem nicht so wäre?“
***
Doch Reeva verbrachte ihre Zeit nicht nur mit Lernen und Gartenarbeit. Sie versuchte sich auch sonst nützlich zu machen, etwa indem sie die Hühner und Ziegen pflegte, die Enva in einem kleinen Stall direkt neben der Hütte hielt: Von ihnen bekamen sie Eier und Milch. Wie Enva allerdings das Fleisch für die täglichen Mahlzeiten auftrieb, sollte Reeva bald erfahren. Eines Morgens wurde sie nämlich besonders früh von der Alten geweckt:
„Rasch, steh auf und mach dich fertig! Wir werden heute bis zum Abend unterwegs sein.“
Reeva fühlte sich noch schläfrig, aber sie vergaß ihre Müdigkeit, als sie Enva durch das taufeuchte Gras in Richtung der Bäume folgte. Nie kannte sie den Wald schöner als zu dieser Stunde: wenn das Sonnenlicht langsam zwischen den Zweigen hindurchsickerte und die Luft so frisch und rein schmeckte.
Der mit Nadeln und abgestorbenen Blättern überzogene Boden federte unter ihren Füßen, und sie kamen rasch voran. Reeva fragte nicht, wohin es ginge; die Alte schien zielstrebig einem Weg zu folgen, den nur sie sehen konnte. Schließlich bückte sie sich nach etwas, das unter einem Strauch verborgen war: Als Reeva neugierig nähertrat, erkannte sie einen Hasen, der an einem Seil von einem Ast baumelte. Enva zog ein Messer aus ihrem Gewand und schnitt ihn mit einem geübten Handgriff ab; dann band sie seine Läufe zusammen und legte ihn sich über die Schulter. „Ich habe in einem Teil des Waldes Fallen für Kleinwild ausgelegt“, wandte sie sich wieder Reeva zu. „Sobald ich Fleisch benötige, suche ich sie auf. Wenn ein Hase länger als ein, zwei Tage an einer solchen Schlinge hängt, holt ihn sich ein anderes Tier; komme ich rechtzeitig vorbei, gibt er ein köstliches Mahl ab.“
Danach begann sie den Mechanismus der Falle zu erklären: Ein starker, biegsamer Ast des Strauches wurde herabgezogen, in den weichen Waldboden gesteckt und mit einem kleinen Haken niedergedrückt. Enva wies Reeva an, das Ende einer Schlinge daran zu befestigen: „Wenn das Wild an den Haken stößt, wird der Ast frei und saust mit der Schlinge hoch; darin verfängt sich das Tier dann.“
Erst als das Mädchen es verstand, selbst eine solche Falle herzustellen, setzten die beiden ihren Weg fort. Bald baumelte auch über Reevas Schulter ein Hase, und ein Rebhuhn dazu. Sie glaubte, dass die Wanderung nun beendet wäre, doch Enva meinte: „Lass uns noch ein Stück den Berg hinaufgehen. Da oben ist etwas, das ich dir zeigen möchte.“
Weiter stiegen sie bergan, Reeva stets ein paar Schritte hinter Enva. Nach einer Weile blieb die Alte überraschend stehen und deutete auf etwas in der Felswand, das von den tief herabhängenden Zweigen eines Baumes fast verdeckt wurde.
Reeva klatschte in die Hände. „Oh Enva, das ist ja eine richtige Höhle! Ist es das, was du mir zeigen wolltest?“
„Ja, das ist es. Geh nur hinein, wir werden drinnen ein Feuer anzünden; es wird allmählich kühl.“
Vom langen Bergsteigen war es Reeva heiß geworden, aber nun merkte sie, dass die Sonne schon fast hinter den Wipfeln verschwunden war. „Werden wir denn in der Dunkelheit nach Hause zurückfinden?“, fragte sie besorgt.
Enva schüttelte den Kopf. „Heute Nacht bleiben wir hier“, sagte sie und schob das Mädchen durch den Höhleneingang.
Wenn Reeva einen dunklen, feuchtkalten Felsraum erwartet hatte, so hatte sie sich getäuscht. Es fiel genug Licht herein, dass man selbst jetzt in den Abendstunden alles erkennen konnte, und der trockene, sandige Boden war gemütlich zum Sitzen. Doch das, was ihr die Höhle erst richtig heimelig erscheinen ließ, war der Geruch; es duftete genau so wie in Envas kleiner Hütte. Als Reeva sich umschaute, erkannte sie auch den Grund dafür: An der Höhlendecke waren Schnüre angebracht, die kreuz und quer durch den Raum gespannt waren. Daran hingen sie, ordentlich zusammengebunden oder in kleinen Leinensäckchen verstaut: Pflanzen von hunderterlei Art.
Während Reeva sich an dieser seltsamen Felsenkammer kaum sattsehen konnte, leerte Enva ihr Bündel. Es enthielt ebenfalls Kräuter, die das Mädchen zum Teil selbst gepflückt und getrocknet hatte, und die
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