Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
offene graue Haar über die Schulter fiel. Behutsam pflückte sie ein Blatt vom Stängel einer Pflanze und zerrieb es zwischen ihren Fingern; dann beugte sie sich darüber, um tief den Geruch einzuatmen.
Diese so gewöhnliche Szene hatte für Reeva etwas seltsam Erhabenes, ja Heiliges. Sie wagte nicht, etwas zu sagen und so auf sich aufmerksam zu machen, weil sie das Bild nicht zerstören wollte. Doch da klang die raue Stimme schon zu ihr herüber; ohne sich umgedreht oder auch nur den Kopf gehoben zu haben, sagte die Frau: „Komm und setz dich zu mir.“
Noch immer von diesem merkwürdigen Gefühl erfüllt, folgte Reeva der Aufforderung. Sie kniete sich ins Gras und blickte die Alte scheu von der Seite an. „Ich kenne dich.“
„Das weiß ich, meine Tochter“, erwiderte die Greisin lächelnd. „Genauso wie ich wusste, dass du eines Tages zu mir kommen würdest. Wie ist dein Name?“
„Ich habe keinen mehr“, antwortete das Mädchen. „Aber meine Mutter – vor vielen Jahren – nannte mich Reeva.“
„Und wie alt bist du, Reeva?“, forschte die Frau weiter.
„Im Sommer werde ich vierzehn.“
„So? Du siehst so mager und kümmerlich aus, als wärst du nicht älter als zehn. Doch das wird sich gewiss bald ändern.“ Ihr einzelnes Auge funkelte vergnügt. „Mich kannst du übrigens Enva nennen. Du wirst es gut bei mir haben, glaube mir.“
Einen Moment lang schwieg Reeva überrascht, dann schüttelte sie heftig den Kopf. „Oh nein, Enva, ich kann nicht bei dir bleiben. Du bist sehr freundlich, aber wenn du mich kennen würdest, hättest du mich im Wald liegengelassen. Meine Seele ist verdammt, denn ich bin –“
Weiter kam sie nicht, weil ihr die Alte eine Hand auf den Mund legte. „Ja, ich weiß, was sie einem antun können“, murmelte sie leise, fast unhörbar. „Ich weiß … Aber der Teufel wird niemals Einlass in meine Hütte begehren, so viel kann ich dir versprechen. – Sieh her“, sagte sie dann übergangslos und deutete auf das Gewächs mit den dreilappigen, an der Spitze eingekerbten Blättern. „Kennst du diese Pflanze, meine Tochter?“
Reeva verneinte. „Ich weiß nur von wenigen Pflanzen, wie man sie nennt“, gestand sie.
„Sie heißt Meisterwurz“, erklärte Enva. „Ein gewaltiger Name, nicht wahr? Doch sie hat ihn sich wahrlich verdient. Es ist eine unübertreffliche Heilpflanze, eine magische Pflanze.“
Als Reeva kaum merklich zusammenzuckte, fuhr die Alte rasch fort: „Sie hilft gegen unzählige Beschwerden: Fieber, Erkältungen, Gliederschmerzen … Aber man muss die Wurzeln zum Heilen verwenden. Daraus kann man einen Tee oder eine Tinktur machen; auch einen Wein kann man mit Meisterwurz aufkochen und ihn dann gegen verdorbenen Magen einnehmen …“
Noch nie hatte sich jemand die Mühe gemacht, Reeva etwas beizubringen. Alles, was sie zum Überleben können musste, hatte sie selbstständig erlernt; doch nun, als Enva sich erhob und mit ihr im Garten umherging, hier und dort auf eine Pflanze wies, ihren Namen nannte und den Nutzen erklärte, hörte sie konzentriert zu. Sie spürte, dass sie an etwas Besonderem teilhaben durfte: Diese Frau war eine Heilkundige und willens, ihr großes Wissen an sie, ein verkrüppeltes, heimatloses Mädchen, weiterzugeben.
Und Reeva war bereit, dieses Wissen aufzunehmen.
Täglich verbrachte sie nun viele Stunden im Garten, lauschte Envas Erklärungen und behielt jedes einzelne Wort. Sobald es dämmerte, nahm die weise Frau das Mädchen mit in ihre Kräuterkammer, die sich neben der Wohnstube befand. Dort las sie aus einem dicken, mit sorgfältiger Handschrift und vielen Zeichnungen gefüllten Buch vor, aus dem Reeva etwas über die Pflanzen lernte, die es zu dieser Jahreszeit noch nicht gab.
Das Mädchen liebte die Kräuterkammer: Es war ein kleiner Raum mit weiß gescheuertem Holzboden, einer Feuerstelle, über der ein Kessel hing, und einem Regal mit unzähligen Gefäßen. Von den Dachbalken hingen getrocknete Kräuterbündel, die das ganze Zimmer mit ihrem herben Duft erfüllten. Nach den Studien aus dem Buch lernte Reeva hier, Arzneien aus den Pflanzen herzustellen. Wenn dann irgendein Gebräu im Kessel brodelte, setzte sich das Mädchen zu den Füßen der Alten nieder und unterhielt sich mit ihr.
Einmal sagte Enva: „Du bist eine sehr fleißige und gelehrige Schülerin; es macht mir Freude, dir etwas beizubringen. Aber das Wissen allein macht aus dir noch keine Heilerin. Die Namen und Verwendungszwecke von
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