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Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)

Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)

Titel: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kira Gembri
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Alte machte sich daran, sie an den Schnüren zu befestigen.
    „Weshalb bringst du all das hierher?“, erkundigte sich Reeva verwirrt.
    „Ich kann es dir nicht genau sagen, meine Tochter. Es … ist mir einfach wohler zumute, wenn ich einen guten Vorrat für Notzeiten hier in diesem Versteck weiß.“ Unvermittelt wandte Enva sich um und blickte das Mädchen eindringlich an. „Hast du dir auch den Weg gemerkt?“
    Reeva nickte erstaunt und wollte noch etwas fragen, doch die Alte hatte ihr schon wieder den Rücken zugekehrt und machte sich nun daran, ein Feuer zu entfachen.
    Wenig später saßen die beiden am Eingang der Höhle und löffelten die Suppe, die Enva aus einem würzigen Kraut gekocht hatte. Schweigend sahen sie zu, wie ein Stern nach dem anderen am samtschwarzen Himmel erschien; dann bemerkte Enva plötzlich: „Der Sommer ist nahe: Es liegt in der Luft, und die Vögel singen davon.“
    Reeva sagte nichts; still wartete sie ab, bis die Alte weitersprach. Nach einer Weile fuhr diese fort: „Du weißt doch, dass ich jeden Sommer ausziehe und von Dorf zu Dorf wandere? Ich muss etwas verdienen, um mir die Dinge kaufen zu können, die ich nicht selbst herstellen kann: Werkzeug, Stoffe für neue Kleider und Salz. Also heile ich die Menschen und verkaufe Arzneien.“
    Etwas regte sich in Reevas Erinnerung; leise fragte sie: „Und wahrsagen? Tust du auch das?“
    Enva schaute nicht auf, hielt jedoch beim Essen inne. Dann erwiderte sie nachdrücklich: „Ja, auch das, wenn die Bauern es wünschen; und das tun sie meist.“
    Anschließend löffelte sie weiter ihre Suppe, als wäre nichts geschehen, doch Reeva war der Appetit vergangen. Eine plötzliche Angst hatte sie gepackt, und ein ganz neues Gefühl, das sie Enva gegenüber noch nie empfunden hatte: Widerwillen, ja fast Abscheu. Aus ihrem Gedächtnis tauchte ein Satzfetzen auf: „… doch sie brächten wohl keinen Bissen herunter, müssten sie mit mir am selben Tisch sitzen!“
    Ich sitze mit ihr zusammen, dachte Reeva. Und auch ich bringe keinen Bissen mehr herunter, denn jetzt wird mir erst richtig bewusst, was sie ist.
    Als hätte Enva diese Gedanken gehört, begann sie zu sprechen. Ihre Stimme klang zwar immer noch beherrscht, doch sie hielt die Suppenschale so fest umklammert, dass die Knöchel ihrer Hand weiß hervortraten. „Ich möchte dich etwas fragen, Reeva. Was ist eine Hexe, kannst du mir das erklären? Ist es jemand, der sich auf Heiltränke und dergleichen versteht? Und wo ist dann der Unterschied zwischen einer Hexe und einem einfachen Kräuterweib?
    Eine Hexe, heißt es, sei böse und wolle anderen Leid zufügen. Ich aber habe Menschen gesehen, die so grausam mit vermeintlichen ‚Hexen’ verfuhren, wie es der Teufel selbst nicht schlimmer tun könnte. Ich war dabei, als eine junge Mutter vom Scharfrichter zu Tode gefoltert wurde, weil sie kein Geständnis ablegte. Doch wie hätte sie das tun können? Sie war taubstumm, Reeva! Doch irgendjemand hatte behauptet, der Teufel säße in ihr – das war ihr Todesurteil.
    Oder soll ich dir von der Frau erzählen, die nur in letzter Sekunde der Hinrichtung entgangen ist? Sie glaubte sich schon verloren, als plötzlich der Sohn des Richters erkrankte. Da wurde sie verschont, um das Kind zu retten, denn sie war eine Heilerin. Doch man hatte sie für ihr Leben gezeichnet.“
    Unwillkürlich fuhr Envas Hand zu ihrer leeren Augenhöhle, das schlaffe Lid zuckte leicht. Dann hatte sich die Alte wieder in ihrer Gewalt und fuhr mit kaum merklich veränderter Stimme fort: „Die Frau hatte überlebt, doch von nun an fürchtete sie die Menschen. Sie zog sich in den Wald zurück, wo sie lange ganz alleine lebte. Viel Zeit musste vergehen, bis sie sich wieder in die Dörfer wagte, um ihrer Aufgabe nachzugehen: dem Heilen.“
    Abrupt stand Enva auf und trat in die Höhle hinein. Nachdem sie das Feuer neu angefacht hatte, zog sie sich ihren Umhang eng um den Körper und legte sich in einem Winkel nieder.
    Reeva tat es ihr nach, doch sie sprach die Alte nicht an. Instinktiv wusste sie, dass Enva an diesem Abend nichts mehr sagen würde.
     
    ***
     
    Am nächsten Morgen machten sie sich schon früh auf den Heimweg. Seit ihrem Gespräch am Abend zuvor hatten sie kein Wort mehr miteinander gewechselt: Reeva aus Scham, weil sie Enva so hässliche Gefühle entgegengebracht hatte – und die Alte mochte wohl auch einen ganz bestimmten Grund für ihr Schweigen haben.
    Als sie so schon stundenlang gewandert waren,

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