Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
diesem Erlebnis jedoch kaum entmutigt. „Dann müssen wir uns eben etwas anderes einfallen lassen“, meinte er achselzuckend, aber Reeva hatte das Gefühl, dass er sie mit diesen Worten nur beruhigen wollte.
Wie hatten sie auch ohne einen festen Plan einfach hierherkommen und erwarten können, dass der König zwei „Bauernburschen“ empfangen würde? Irgendwie hatten sie nicht weiter gedacht als bis zu dem Punkt, an dem sie die Stadt erreichten: Wenn es ihnen nur gelänge, ihre Reise zu vollenden, dann würde sich alles Weitere schon fügen. Und nun standen sie vor dem verschlossenen Tor, während die Zeit ihnen wie feiner Sand durch die Finger rieselte.
Mitten in ihrem Gedankengang wurde sie unterbrochen, als ein grauhaariger Mann an ihnen vorbeischritt und sogleich von den Wächtern durchgelassen wurde. Auch die Wirtstochter wandte den Kopf und blickte ihm hinterher. „Das ist der einzige Leibarzt des Königs, nur ihm vertraut er“, erklärte sie ehrfürchtig. „Er soll ein sehr gelehrter Medikus sein.“
Doch kaum war der Bärtige verschwunden, setzte sich das Mädchen wieder eilig in Bewegung – schon viel zu lange war es dem Wirtshaus ferngeblieben, und die Mutter brauchte seine Hilfe. Also kehrten sie unverrichteter Dinge zum „Goldenen Hahn“ zurück, wo Jacob und Reeva zu ihrer kleinen Dachkammer hinaufstiegen.
Dem Jungen war aufgefallen, dass das Mädchen noch stiller war als sonst, seit sie von den Wächtern abgewiesen worden waren. Er sprach Reeva nicht darauf an; geduldig saß er auf seinem Strohsack, bis sie irgendwann von selbst mit ihren Sorgen herausplatzte.
„Jacob, sag mir, wie wir so dumm sein konnten – weshalb haben wir diese Reise überhaupt unternommen? Es hat keinen Zweck, wir werden niemals vorgelassen werden. Und was dann? Du könntest vielleicht zum Schloss zurückkehren und irgendeinen Vorwand für deine lange Abwesenheit finden. Aber ich – wohin soll ich dann gehen? Und soll alles, was ich gesehen habe, wahr werden?“
„Über unsere Rückkehr werden wir uns ein andermal den Kopf zerbrechen“, unterbrach Jacob. „Du weißt sehr gut, dass dies hier die einzige Möglichkeit ist, die sich uns bietet – wenn sich deine Vision andernfalls tatsächlich bewahrheitet, haben wir ohnehin nicht viel zu verlieren.“
Eine Weile blieben sie beide stumm und lauschten auf die Stimmen, die aus der Schankstube zu ihnen heraufdrangen. Reeva hatte ein großes Loch in ihrem verschlissenen Strohsack entdeckt, aus dem die Füllung auf den Bretterboden rieselte. Vorsichtig las sie das Stroh auf und schob es Halm für Halm wieder durch den Riss zurück – da ließ sie ein plötzlicher Ausruf Jacobs zusammenfahren.
„Ich habe ihn gefunden! Reeva, ich glaube, ich habe einen Weg gefunden!“
„Einen Weg?“, wiederholte sie müde und sah zu, wie das Stroh wieder aus dem Loch hervorquoll. „Um ins Schloss zu kommen?“
„So ist es! Weshalb konntest du denn bis zu unserem Prinzen vordringen?“
Reevas Hände zuckten und ließen die aufgesammelten Halme fallen, doch Jacob bemerkte es in seinem Eifer nicht. „Nur aufgrund deiner Heilkräfte, und weil er schwer erkrankt war. Genau so wird es auch diesmal gelingen – nein, warte noch einen Moment, bevor du etwas sagst. Mir ist bewusst, dass du damals auch nur durch die Hilfe des Leibdieners ins Schloss gelangen konntest, aber wir müssen eben für andere Voraussetzungen sorgen und uns auf unser Glück verlassen. Natürlich weiß ich auch, dass der König nicht ausgerechnet jetzt von einem Leiden gequält wird … darum ist es an dir, ihn krank zu machen.“
Und er erklärte ihr seinen Plan. Reeva saß schweigend da und hörte ihm zu, obwohl es sie längst drängte, etwas zu sagen. Doch als er geendet hatte, schüttelte sie nachdrücklich den Kopf.
„Nein“, erwiderte sie fest. „Das werde ich nicht tun – einen Menschen vergiften. Enva lehrte mich alles über Kräuter, damit ich Kranke gesund mache und nicht, damit ich Gesunden Leid zufüge. Du wirst dir etwas anderes ausdenken müssen.“
„Aber es gibt nichts anderes!“, beteuerte Jacob. Verzweifelt erinnerte er Reeva daran, was auf dem Spiel stand, woraufhin sie immer neue Einwände vorbrachte: Es sei zu riskant, ja geradezu tollkühn. Zu viel könne dabei schiefgehen, zu viele Dinge könnten anders verlaufen als geplant.
Jacob, der sich warm geredet hatte, ließ sich auf seinen Strohsack zurückfallen und sprach endlich wieder mit ruhiger Stimme. Er sah sie fest an,
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