Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
wurde. Für einen winzigen Moment, nur für die Dauer eines Herzschlages oder zwei, konnte Reeva durch die Augen der Verurteilten sehen: Sie schaute hinab auf die Holzscheite zu ihren Füßen und dann in all die geröteten Gesichter, die sich ihr zuwandten.
„Also nicht?“, durchschnitt die scharfe Stimme des Richters das unwillige Raunen der Menge. „Nun denn …“ Er schien noch mehr zu sagen, denn sein Mund öffnete und schloss sich wie der eines Fisches; doch Reeva konnte nichts mehr hören.
Aber sie konnte sehen.
Die Fackel malte mit ihrem Rauch graue Zeichen in den Himmel; dann wurde sie an den Scheiterhaufen gehalten. Zuerst leckte die Flamme nur an den Holzscheiten, fast verspielt, und fand schließlich das trockene Reisig.
Als sich das Feuer gierig weiterfraß, kam endlich Leben in die zuvor reglose Gestalt. Ihre Glieder zuckten, als die Hitze langsam in die Höhe stieg; gleich würden die Flammen den Saum ihres Kittels erreicht haben, würden ihre Haut versengen, ihr Haar, ihr Fleisch. Die Frau wand sich, in dem verzweifelten und aussichtslosen Versuch, ihre Fesseln zu lösen. Sie warf ihren schmalen Körper hin und her, drehte den Kopf – und für den Bruchteil einer Sekunde sah sie Reeva direkt an. Dann schlugen die Flammen hoch, der Rauch verhüllte ihr Gesicht … Und die Frau schrie.
Kam das Geschrei, das Schluchzen nur von ihr? Oder drangen auch aus Reevas Kehle diese Laute, die so gar nicht nach der Stimme eines Menschen klangen, sondern nach der eines gequälten Tieres?
Das lodernde Feuer, die brüllende Menge, das Gesicht der Frau, welches sie schon seit zwei Jahren kannte – all das rückte langsam in die Ferne, als Reeva vom Dorfplatz fortgezerrt wurde. Die strohgedeckten Häuser, der Karrenweg … dann waren sie auf einer Wiese, das Dorf noch in Sichtweite. Wie friedlich lag es dort in der Mittagssonne, wie klein – doch da, was störte das beinahe vollkommene Bild? Stieg dort nicht dunkler Rauch in den blauen Himmel und nahm das Leben eines Menschen mit sich?
Verzweifelte Wut flammte in Reeva auf, sie ballte die Fäuste und trommelte gegen Jacobs kräftige Brust. Sie hasste ihn, weil er nicht rechtzeitig dagewesen war, sie hasste sich selbst, weil sie nichts hatte tun können – sie hasste den Bauern, der über die erbarmungslose Folter eines Menschen sprach, als wäre sie notwendig, und über die Hinrichtung, als wäre sie gut, als wäre sie gerecht.
Jacob ließ diese hilflosen Schläge schweigend über sich ergehen und gab Reeva Halt, als sie müde wurde und schwankte. Für einen Moment wurde ihr Körper weich, kraftlos, bis er sich plötzlich in neu aufkommender Übelkeit zusammenzog. Reeva hörte, wie Jacob leise auf sie einredete, ohne seine Worte zu verstehen; sie spürte seine Hände, die ihr den Kopf hielten und über das kurze Haar strichen. Doch es gab keine Beruhigung und keinen Trost: Die Hände konnten das Grauen ebenso wenig fortwischen wie den süßlichen Geruch nach verbranntem Fleisch.
***
Jacob wandte den Blick von der teilnahmslos neben ihm hertrottenden Gestalt ab und seufzte leise. Seit der miterlebten Hexenverbrennung vor einigen Tagen war Reeva nicht mehr dieselbe: Immer noch fuhr sie nachts zitternd aus dem Schlaf, und den Jungen beschlich der Verdacht, dass sie in ihren Albträumen nicht den Flammentod der Hebamme sah – sondern ihren eigenen.
Er wusste, dass sie sich irgendwann von dem Schock erholen würde: Sie war niemand, der sich nächtlichen Schatten ohne weiteres ergab. Doch selbst wenn sie bald wieder nach außen hin normal wirken mochte, so war doch ein großer Teil ihrer neu gewonnenen Sicherheit zerstört worden.
Der Junge konnte nicht ahnen, dass Reeva nicht nur von Albträumen gequält, sondern immer wieder von der Vision heimgesucht wurde, die mit dem bevorstehenden Krieg zu tun hatte. Nacht für Nacht sah das Mädchen die gut gerüstete feindliche Armee, die in einer riesigen Talsenke aufgestellt worden war; Flaggen wehten im Wind, und im Hintergrund waren deutlich die gezackten Gipfel einer Gebirgskette zu erkennen. Reeva war sich darüber im Klaren, was die immer schärfer werdenden Bilder zu bedeuten hatten: Der Sommer kam, und die sonst so ersehnte Jahreszeit hing wie eine stumme Drohung in der Luft. Viel zu lange hatten sie die heftigen Regenfälle, der schlechte Zustand der Straßen und das Verweilen in den Dörfern aufgehalten. Als sie aufgebrochen waren, war es gerade Frühling geworden, und nun wurde es täglich
Weitere Kostenlose Bücher