Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
„Obwohl uns natürlich allen klar war, wer den Tod dieses Kindes verschuldet hatte, stritt die Hebamme beim Verhör alles ab. Ich habe aus gut unterrichteter Quelle erfahren, dass der Scharfrichter bei ihr eine auffällige Narbe entdeckt und mit einer Nadel hineingestochen hat – es kam kein Blut, das schwöre ich, es war das Mal des Teufels! Aber hätte die Hexe angesichts dieses Beweises etwa gestanden? Nichts dergleichen! Sie bekam sogar die Möglichkeit, es sich noch einmal zu überlegen, als man ihr die Folterwerkzeuge zeigte und genau erklärte – doch man stelle sich diesen Starrsinn vor, nicht einmal das konnte sie einschüchtern! Da begann man mit der peinlichen Befragung. Du hast sicher schon davon gehört, Junge, was da so alles getan wird?“
Die letzten Worte gingen im plötzlich auftosenden Geschrei der Menge unter. Reeva wollte fort, fort! , aber der Bauer hielt sie erstaunt am Arm fest:
„Du wirst doch jetzt nicht gehen wollen, mein Sohn? Du verpasst noch alles – sieh nur, sie kommt!“
Drei Männer schritten vorneweg, ein vierter führte die Frau an einem Strick hinter sich her. Sie starrte teilnahmslos auf den Boden vor ihren Füßen und schenkte der tobenden Menge keine Beachtung, so als wäre diese gar nicht vorhanden … als wäre sie selbst längst nicht mehr hier. Nur notdürftig wurde ihr magerer Körper von einem zerfetzten Kittel bedeckt, der die Wunden an ihren Händen und an einem ihrer Beine den Blicken der Menschen preisgab.
Auch Reeva konnte ihre Augen nicht von den Verletzungen abwenden, und doch wünschte sie sich in diesem Moment nichts sehnlicher als das. Blut floss in breiten Bahnen über das rechte Schienbein der jungen Frau, das tiefe Quetschwunden aufwies; an einer Stelle konnte Reeva bis auf den zertrümmerten Knochen sehen.
Da war sie wieder, die verhasste Stimme an ihrem Ohr, und eine große Hand deutete auf die Wunden der Gefesselten: „Siehst du, das stammt von der peinlichen Befragung. Man hat ihr offenbar Daumenschrauben angelegt, die langsam festgezogen werden und den Fingerknochen zermalmen – und das hier, an ihrem Bein, kommt vom Spanischen Stiefel. Ich wüsste zu gern, ob man sie auch auf die Streckbank gebunden hat, aber vermutlich schon; angeblich soll es ganz grässlich knacken, wenn die Gelenke auseinandergezerrt werden …“
Das Grölen der Menge steigerte sich noch, als sich die Frau mühsam auf den Scheiterhaufen zuschleppte und die Männer anschließend daran gingen, sie an den Pfahl zu binden. Reeva aber wünschte, die Menschen würden noch viel lauter schreien, um die Stimme des Bauern zu übertönen. Sie wollte seine Worte nicht hören, wollte die Bilder nicht sehen, die er in ihrem Innern heraufbeschwor, aber trotz des Lärms konnte sie jeden einzelnen Satz verstehen. Ihr Magen zog sich krampfhaft zusammen, und eine eiskalte Übelkeit breitete sich in ihr aus, als der Mann so ruhig weitersprach, als ginge es um die diesjährige Rübenernte:
„Man erzählt sich, das Weib sei unglaublich stur und zäh gewesen. Während der ganzen Tortur soll sie nicht geweint haben, nicht eine einzige Träne, was wieder beweist, dass sie nichts anderes sein kann als eine Hexe. Aber irgendwann entschloss sie sich doch, zu gestehen: Nach einer Weile kam alles raus, und sie soll sogar mehrere Namen von Mitschuldigen genannt haben. Besser ist’s! Und nun wird sie dem reinigenden Feuer übergeben.“ Sichtlich zufrieden verschränkte der Bauer die Arme vor seiner Brust.
Die Frau, die er Hexe genannt hatte, stand nun mit gesenktem Haupt auf dem kleinen Trittbrett, welches am Pfahl angebracht war. Als einer der Männer ein letztes Mal ihre Fesseln strammzog, zuckte ihr Gesicht vor Schmerz, doch dann wurde ihre Miene wieder ausdruckslos. Die Zuschauer murrten, viele schienen enttäuscht: Man wünschte sich eine Sünderin, die um Gnade flehte und wenig Tapferkeit zeigte. Der Anblick dieses Weibes bewies jedoch, wie verstockt es sein musste, wie tief das Schlechte in ihm verwurzelt war.
„Brenne, Hexe!“, schwang sich eine klare Stimme über das Gemurmel der Menge empor, und andere fielen sogleich mit ein: „Brenne, brenne!“
Einer der Männer dort vorne hob nun die Hand und sorgte für einen Augenblick Ruhe. Das Todesurteil der Frau wurde verlesen, dann wurde sie gefragt, ob sie noch etwas zu sagen habe. Nun wurde es auf einmal sehr still; alle Augen waren auf die dünne Gestalt vor dem Pfahl gerichtet, die einzig durch die Stricke auf den Beinen gehalten
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