Das Mädchen aus Mantua
hergebracht worden war; damals hatte der Mann, der am Antoniusfeuer litt, noch wie ein Mensch ausgesehen, trotz der schwärenden Beulen am ganzen Körper und der schwarzen Fingerstümpfe. Die Nonnen hatten ihn auf Geheiß des Fraters mit Mohnsaft behandelt, um die unmenschlichen Schmerzen zu lindern, doch es hatte immer nur begrenzte Zeit geholfen. Nach ein paar Stunden fing er stets wieder an zu stöhnen und schließlich zu schreien, bis ihm der nächste Trunk verabreicht wurde.
Der Schrei jedoch, den er in dieser Nacht ausgestoßen hatte, war anders gewesen als alle vorangegangenen. Filiberto hatte sofort gewusst, dass es ein Todesschrei war, das letzte Aufbäumen einer armen, gemarterten Seele. Grund genug für alle, die es hörten, sich mit dem, was sie aßen oder tranken, besser vorzusehen. Es sei denn, man nahm es absichtlich zu sich, um daran zu sterben. Dann aber sollte man sicher sein, auch wirklich genug davon zur Hand zu haben.
Solche und ähnliche Gedanken gingen dem Wanderarzt durch den Kopf, während er nach allen Seiten lauschte. Der Tote war weggebracht worden, die meisten anderen Patienten schliefen wieder, bis auf jene, denen es wegen der Schmerzen nicht möglich war, doch die waren ohnehin nicht in der Lage, an ihrer Umgebung Anteil zu nehmen. Er selbst hingegen fühlte sich hellwach. Sein Denkvermögen ließ nichts zu wünschen übrig. Er hatte Wochen um Wochen hier gelegen, mit gebrochenen Knochen und schmerzhaft geschwollenen Kiefern, doch er hatte Verschiedenes gesehen und gehört. Genug, um über einiges, was hier geschah, genauer nachzudenken.
Die rothaarige junge Dame, die eine Zeit lang das Bett neben ihm belegt hatte, war in der Nacht vor ihrer Entlassung offensichtlich ähnlichen Überlegungen nachgegangen. Gern hätte er mit ihr darüber gesprochen, doch dazu hatte sich keine Gelegenheit mehr ergeben; sie war am nächsten Morgen zeitig abgeholt worden. Er selbst hatte damals wegen seines Beins nicht aufstehen können; der Knochen war aus unerfindlichen Gründen miserabel zusammengewachsen, sein Unterschenkel sah so krumm aus wie eine Bootsplanke. Erst seit ein paar Tagen konnte er das Bein wieder belasten; höchste Zeit, sich auf den Weg zu machen und von hier zu verschwinden.
»Morgen«, hatte der Frater gesagt. »Morgen könnt Ihr Euer Bündel schnüren und gehen.« Dann hatte er bedauernd gelächelt: »Oje, ich vergaß, Ihr habt ja gar kein Bündel, nachdem Euer treuloser Assistent Euch aller Habe beraubt hat. Aber sorgt Euch nicht. In solchen Fällen übernimmt die Spitalsstiftung bei durchreisenden Fremden die Kosten für das Allernötigste, etwa warme Kleidung, eine Fahrt mit der Kutsche oder Proviant. Ihr werdet beruhigt Eurer Wege ziehen können.«
Das hatte Filiberto vor. Er konnte es kaum erwarten. Doch zuvor wollte er mit eigenen Augen sehen, was sich im Keller dieses Spitals befand. Was dort geschah .
Abermals wandte er sich lauschend nach allen Seiten, dann erhob er sich so leise wie möglich von seinem Lager.
Am nächsten Morgen
»Willst du das wirklich tun?«, murmelte Arcangela. Verschlafen hob sie den Kopf und sah zu, wie Celestina bei Kerzenlicht ihre Sachen zusammenpackte und in den Korb legte. »Es lohnt sich doch eigentlich überhaupt nicht mehr.«
»Bis Mutter hier auftaucht, kann noch viel Wasser die Brenta hinabfließen«, gab Celestina zurück. Ihre Stimme klang munterer, als sie sich fühlte. Ihre Mutter hatte einen weiteren Brief geschickt, in dem sie ankündigte, nicht mehr lange mit der Reise warten zu wollen. Daneben hatte es eine zusätzliche Nachricht gegeben, die an Marta und Lodovico gerichtet war und deren in zahlreichen verschlungenen Sätzen verklausulierter Tenor besagte, dass sie höchsten Wert darauf lege, endlich einmal ihre Töchter wiederzusehen, weshalb diese entweder zügig die Heimreise anzutreten oder wahlweise ihren Besuch zu erwarten hätten.
Daraufhin hatte sich Marta trotz ihrer Abneigung gegen Celestinas Mutter beeilt, dieser eine formelle Einladung zukommen zu lassen. Die Alternative – Celestina und Arcangela auf die Reise nach Venedig zu schicken – stand für Marta außerhalb jeder Debatte. Unter Tränen hatte sie Celestina angefleht, sie nicht in ihrem leidvollen Elend allein zu lassen. Sie hatte sofort einen Brief an Celestinas Mutter gesandt und ihr anheimgegeben, jederzeit ihre Gastfreundschaft in Anspruch zu nehmen. Sie hatte sich sogar zu der Aufforderung verstiegen, ihre Schwägerin möge das Haus der Bertolucci
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