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Das Mädchen aus Mantua

Das Mädchen aus Mantua

Titel: Das Mädchen aus Mantua Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Thomas
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zugesehen, an fünf aufeinanderfolgenden Tagen, und sie hatte dabei so viel über das Innere des menschlichen Körpers gelernt wie nie zuvor.
    Zugleich war es ihr gelungen, sich weiter in das Vertrauen des Prosektors einzuschleichen, indem sie sich bereitwillig von ihm für alle Putz- und Aufräumdienste einteilen ließ und es am letzten Tag der Sektion sogar auf sich nahm, die verbliebenen sterblichen Überreste des Wanderarztes gemeinsam mit Gianbattista in handliche Stücke zu zerlegen, die anschließend wie beliebige Schlachtabfälle weggeworfen wurden.
    Celestina versuchte, den Prosektor mit arglosen Fragen zu bewegen, sich über die Beschaffung weiterer Leichen für die Anatomie zu äußern, doch zu ihrem Leidwesen blieb er in diesem Punkt sehr wortkarg. Bei anderen Themen wurde er dagegen nachgerade redselig; er sprach über seinen Vater, der ihm mit seinen Schlägen die Knochen gebrochen hatte, was ihn schon in früher Jugend mit Chirurgen zusammengebracht hatte. Deren Arbeit hatte ihn folglich von klein auf fasziniert, er wäre zu gern bei einem dieser Knochenflicker in die Lehre gegangen. Der Vater hatte ihm indessen mithilfe einer gewaltigen Tracht Prügel begreiflich gemacht, dass dieser Beruf für ihn nicht infrage kam.
    »Damals hat er mir dieses Loch in den Kopf geschlagen«, sagte der Prosektor. Er zeigte auf eine dunkle Vertiefung an seinem Hinterkopf. »Die Totengräber kamen mich holen. Man hatte mich schon in den Sarg gelegt, um mich am nächsten Tag zu bestatten. Als ich wieder zu mir kam, was es finster um mich herum.«
    »O Gott«, sagte Celestina entsetzt. »Ihr wurdet lebendig begraben?«
    Gianbattista schüttelte das kahle Haupt. »Ich wurde nicht unter der Erde wach. Sondern in der Leichenkammer. Zusammen mit anderen Toten. Die allerdings richtig tot waren.« Er lachte misstönend. »Ich brauchte eine ganze Weile, um es zu begreifen. Ich war erst zehn, musst du wissen. So stolperte ich von einem Aufgebahrten zum anderen und flehte jeden einzelnen um Hilfe an, bis mir aufging, dass es allesamt Leichen waren. Auf diesem Wege habe ich gleichsam meine Bestimmung gefunden – die Anatomie.« Er lachte abermals, es schien ihn über die Maßen zu belustigen, wie er sich damals benommen hatte, doch Celestina zweifelte nicht, dass er in ebenjener Nacht dem Wahnsinn anheimgefallen war, den man, wenn man genau hinschaute, in seinen Augen flackern sah.
    Die Hintergründe der Leichenbeschaffung waren ihm jedoch nicht zu entlocken, sodass Celestina weder ihrem Gönner, Frater Silvano, noch dem Capitano Neues berichten konnte.
    Letzteren informierte sie über ihre ergebnislosen Bemühungen, indem sie ihm eine Botschaft auf die Kommandantur sandte; es wäre ihr in höchstem Maße peinlich gewesen, Vitale Manzini persönlich gegenüberzutreten, nun, da er um ihre Verkleidung wusste. Wohlweislich beschränkte sie ihre Auftritte als Marino auf die Universität, denn das Risiko, woanders auf Leute zu treffen, die sie bereits als Frau kannten, war zu groß. Auch als solche vermied sie es mittlerweile, unter Menschen zu gehen, und wenn es dann doch einmal unumgänglich war, etwa beim Kirchgang, legte sie ihren Witwenschleier an und verhüllte ihr Gesicht.
    Sie war so beschäftigt mit all ihren Schwierigkeiten, dass das, was am letzten Sonntag im Oktober geschah, sie völlig unerwartet traf.

Letzter Sonntag im Oktober
    Sie saßen beim Essen, als die Türglocke läutete. Morosina ging öffnen und kehrte dann in das Speisezimmer zurück, wo die Familie das Sonntagsmahl einnahm. Morosina, die gerade eben den letzten Gang aufgetragen hatte, meldete einen Besucher.
    »Ein Herr ist gekommen und wünscht sein Begehr vorzubringen«, sagte sie, beide Hände in die Schürze gekrampft und den Blick auf ihre Schuhspitzen gerichtet.
    »Wer ist es denn?«, fragte Marta mit brüchiger Stimme. Sie hing mehr in ihrem Stuhl, als dass sie saß. Die Haube fiel schlaff um ihr bleiches, ausgezehrtes Gesicht. Noch vor Wochen wäre kein Denken daran gewesen, dass sie bei Tisch das Haar bedeckte, doch nachdem es ihr in letzter Zeit in Büscheln ausgefallen war, mochte sie sich nicht mehr barhäuptig zeigen. Von dem Essen nahm sie kaum etwas zu sich, sie stocherte nur darin herum, pickte hier und da einen Bissen auf, dessen Schicksal vorherbestimmt war: Sie würde alles wieder hervorspeien, denn bei sich behalten konnte sie so gut wie nichts mehr. Dass sie dessen ungeachtet darauf bestand, sich mithilfe anderer zu Tisch zu schleppen und

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