Das Mädchen aus Mantua
vorbereitet. Gewiss, Timoteo hatte sie vorgewarnt, hatte ihr geschildert, was sein Bruder ihm angekündigt hatte, doch sie hatte es erfolgreich verdrängt. Bis eben.
Konsterniert folgte sie ihrer Stiefschwester in die gemeinsame Schlafkammer, um ihren Umhang und ihre Haube zu holen. Dabei kam sie an Hieronimo vorbei, wagte aber nicht, ihn anzusehen. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was sie denken sollte. Wenn Timoteo mit seiner Einschätzung recht hatte, plante sein Bruder einen scheußlichen, gemeinen Betrug. Dem sie zum Opfer fallen sollte. Hatte er nicht recht, dann …
»Du musst zuerst herausfinden, was er im Schilde führt«, zischte Arcangela ihr zu, während sie gemeinsam hinauf ins zweite Obergeschoss gingen. Sie warf einen Blick über die Schulter nach unten, wo Hieronimo in artiger Haltung in der offenen Tür des Speisezimmers wartete und ihnen nachblickte.
»Warum?«, wollte Celestina wissen.
»Ganz einfach. Wenn er dich hereinlegen will, hältst du ihn hin. Das verschafft uns Zeit. Es verschafft dir Zeit.«
»Und wenn er mich nicht reinlegen will? Was mache ich, wenn er es ernst meint?«
»Dann hältst du ihn hin, um Zeit zu schinden.«
Celestina blieb in der Schlafkammer stehen und blickte Arcangela irritiert an. »Das ist doch in beiden Fällen dasselbe!«
»Eben.« Arcangela stülpte ihr die Haube über das Haar, das bereits, wie immer, sorgsam im Nacken zusammengebunden war, sodass niemandem die mangelnde Länge auffallen konnte, dann legte sie ihr den gefütterten Umhang über die Schultern. »Mach schon, zieh deine warmen Schuhe an, es ist kühl draußen.«
»Warte. Wieso sollte ich dieses dumme Spiel auf mich nehmen? Was meinst du mit Zeit schinden ? Wozu soll das taugen?«
»Nun, denk doch einfach nach!« Arcangela schubste sie ungeduldig auf einen Schemel, zerrte ihr mit einer Hand die Hauspantinen herunter und schob ihr die Schuhe hin. »Nehmen wir an, seine Absichten sind so, wie Timoteo es ihm unterstellt.«
»Also dass er mich hereinlegen will.«
»Ganz recht. Unterstellen wir das. Nun, nehmen wir weiter an, du zeigst ihm die kalte Schulter, weil du davon ausgehst, dass er dich sowieso nur hereinlegen will – was wäre die Folge?«
»Seine Rachsucht und sein Hass würden ins Unermessliche wachsen«, sagte Celestina ohne zu zögern. Sie dachte kurz nach. »Es würde rasch zu neuen Konflikten kommen, die Lage würde sich von heute auf morgen drastisch zuspitzen. Wenn Hieronimo und Guido sich das nächste Mal über den Weg laufen, dann …« Sie schüttelte den Kopf. »Es gäbe Mord und Totschlag.«
»Siehst du!«
»Und was wäre, wenn er entgegen Timoteos Annahme wirklich lautere Absichten hätte?«
»Dann musst du erst recht Zeit gewinnen!«
»Das verstehe ich nicht. Kannst du es mir erklären?«
Arcangela konnte. Sie war eine Meisterin der Intrigen und verstand sich besser auf das vertrackte Spiel der Liebe als sonst wer. »Angenommen, du lehnst seine Avancen ab – mit welcher Begründung würdest du es tun?«
Celestina dachte nach. »Nun, ich würde ihm sagen, die Trauer um meinen verstorbenen Gatten hält mich noch zu sehr gefangen, als dass ich bereits ernsthaft über eine neue Bindung nachdenken könnte.«
»Da hast du es!«, antwortete Arcangela triumphierend. Sie ergriff einen Kamm, stellte sich vor den Spiegel und strich sich genießerisch durchs Haar.
»Was habe ich denn?«, wollte Celestina irritiert wissen. »War das etwa schon die Erklärung?«
»Aber sicher. Denn er würde dir, während du dies sagst, ins Gesicht sehen.« Arcangela führte es näher aus. »Dabei kann ihm nicht entgehen, dass du lügst.«
»Warum?«
Arcangela musterte sie mitleidig, ohne mit dem Kämmen aufzuhören. »Meine liebe Schwester, ist das wirklich eine ernsthafte Frage?« Sie nahm Celestina bei der Hand, zog sie neben sich vor den Spiegel und forderte sie auf, hineinzusehen. »Sag mir, was du da siehst.«
»Eine Frau mit roten Haaren, die sich kämmt.«
»Und die andere? Die daneben?«
Celestina musterte sich widerstrebend, sie hielt nicht viel davon, sich ständig im Spiegel zu beäugen. Doch nun, da sie es auf Geheiß ihrer Stiefschwester tat, versuchte sie, eine möglichst objektive Sichtweise an den Tag zu legen. Sie bemerkte die rosigen Wangen, die funkelnden Augen, das in den Mundwinkeln nistende Lächeln, das nur darauf wartete, sich wieder zu zeigen – sobald sie ihren Geliebten das nächste Mal sah. Sie schaute in den Spiegel und sah das, was die anderen
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