Das Mädchen aus Mantua
die Gestalt bemerkte, die sich im Schatten der Gasse zu schaffen machte. Jemand war im Begriff, die Mauer zu erklimmen, die das Anwesen der Bertolucci umgab!
Er dachte nicht groß nach. So schnell er konnte, rannte er zu dem Haus, ohne Rücksicht auf die stechenden Schmerzen in seinem Oberschenkel. Er bekam den Burschen, der sich an der Mauer hochzog, am Wams zu fassen und zerrte ihn herunter.
Dem unterdrückten Schreckenslaut zufolge war es noch ein Knabe, was sich gleich darauf bestätigte, als der Kerl sich hochrappelte und ängstlich die Mütze in die Stirn zog. Ein bartloser Jüngling, und überdies von so schmächtiger Statur, dass Timoteo sich nicht die Mühe machte, ihn länger festzuhalten. Stattdessen stieß er ihn gegen die Mauer.
»Was hast du hier verloren, eh?«, fragte er drohend. »Wieso wolltest du über die Mauer steigen?«
Er stieß den Jungen abermals gegen die Mauer. Dabei merkte er, dass er dem Burschen schon begegnet war, doch ihm fiel nicht ein, wo. Das ärgerte ihn, denn im Normalfall ließ sein Gedächtnis nichts zu wünschen übrig. Es konnte nicht lange her sein, er war sogar sicher, dass es erst vor ein paar Tagen gewesen war. Diese Stupsnase, die erschrockenen großen Augen in dem schmalen Gesicht …
Ihm platzte der Kragen, er schubste den Burschen erneut. »Du wolltest einbrechen, gib es zu!«
»Ich bin kein Einbrecher, edler Herr, wirklich nicht!«, presste der Junge hervor.
»Was hast du mit den Bertolucci zu schaffen?« Ein plötzlicher Verdacht ließ Timoteo zusammenzucken, er packte den Burschen beim Kragen. »Du wolltest zu Chiara! Zu einem nächtlichen Stelldichein! Du widerwärtiger Halunke!«
»Ich … Nein!«, behauptete der Junge mit erstickter Stimme.
Timoteo schüttelte ihn, außer sich vor Wut. »Lüg mich nicht an! Wer bist du, und was hast du hier verloren?«
»Mein Name ist … Marino. Ich bin hier mit meiner … Schwester!«
»Mit welcher Schwester?«
»Sie heißt Celestina! Wir beide weilen zu Besuch bei den Bertolucci! Sie ist seit einer Woche hier, ich traf erst gestern ein. Mein Onkel erlaubt nicht, dass ich nachts allein ausgehe, also habe ich mich fortgeschlichen. Und wollte gerade auf demselben Weg zurück. Bitte verratet mich nicht!«
Timoteo war so verblüfft, dass er den Kerl auf der Stelle losließ. Ein dummer Fehler, denn der Junge war schnell und wendig wie eine Katze. Blitzartig duckte er sich unter Timoteos Arm hindurch und war gleich darauf um die nächste Ecke verschwunden.
Timoteo setzte an, den Flüchtenden zu verfolgen, doch der Impuls verging so rasch, wie er gekommen war. Für diese Nacht hatte er seinem Bein genug zugemutet.
Er blieb noch eine Weile bei der Mauer stehen und dachte angestrengt nach. Wenigstens wusste er jetzt, warum der Bursche ihm so bekannt vorgekommen war. Er war dem Mädchen aus Mantua förmlich wie aus dem Gesicht geschnitten. Also hatte er nicht gelogen, sie war tatsächlich seine Schwester. Doch damit war keineswegs sichergestellt, dass der Junge auch beim Rest die Wahrheit gesagt hatte. Vor allem nicht, was Chiara betraf. Es musste einen Grund geben, warum sie ihm aus dem Weg ging. Hatte da womöglich dieser Marino seine Hände im Spiel? Er war noch jung, der Stimmbruch hatte noch nicht bei ihm eingesetzt, von Bartwuchs ganz zu schweigen. Aber Timoteo wusste, dass manche milchgesichtigen Schönlinge einen guten Schlag bei Frauen hatten. Er hatte schon mehr als einen halbwüchsigen Scholaren in traulicher Zweisamkeit mit willigen Schankmädchen beobachtet.
Voller Groll und Misstrauen machte er sich auf den Heimweg.
Celestina wartete in der dunklen Gasse, in die sie sich geflüchtet hatte. Es dauerte eine Ewigkeit, bis seine Schritte sich entfernten. Erst, als kein Laut mehr zu hören war, wagte sie, zum Haus der Bertolucci zurückzukehren. Sie ging auf Zehenspitzen und hielt immer wieder inne, bereit, notfalls sofort wieder das Weite zu suchen.
Sie wagte kaum zu atmen, bis sie endlich die Mauer erreicht hatte. Ein Sprung in die Höhe, und sie bekam mit beiden Händen die Krone zu fassen. Ihr rechter Fuß fand Halt auf einem winzigen Vorsprung, der linke auf einem weiteren. Einen angstvollen Moment gab es dann noch, als sie sich hochzog. Vorhin hatte er sie genau in dieser Stellung gepackt und herabgezerrt. Diesmal lauschte sie angespannt, ob er sich womöglich abermals näherte, doch es war nichts zu hören außer ihrem angestrengten Atmen. Dann war es geschafft, sie hatte sich hochgehievt und ließ
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