Das Mädchen aus Mantua
sich auf der anderen Seite der Mauer wieder hinab. Bis zum Spalier waren es nur wenige Schritte, vorbei an den Büschen, deren Lage sie sich gut eingeprägt hatte. Es war reichlich finster hier im Garten, man sah kaum etwas. Nur der entfernte Widerschein einer Fackel auf der Piazza und das blasse Mondlicht halfen ihr, den Weg zu finden. In Windeseile war sie über das Spalier nach oben geklettert und drückte das Fenster auf. Arcangela war wach und half ihr hinein.
»Gott im Himmel, Celestina!«, sagte sie entsetzt.
Celestina zog sich die Mütze vom Kopf und ließ sich schwer atmend auf ihr Bett fallen. »Ich weiß«, sagte sie. »Das gehörte nicht zum Plan!« Sie rieb sich die Schulter. Er hatte sie ziemlich grob gegen die Mauer geschubst. Sie würde blaue Flecken davontragen.
»Ich wusste, dass es eines Nachts so kommt«, sagte Arcangela außer sich. »Ich war drauf und dran, Zeter und Mordio zu schreien! Ich konnte zwar nicht hören, was er sagte, aber dass er dir nicht gerade freundlich gesonnen war, konnte einem unmöglich entgehen. Wer war der Kerl?«
»Timoteo Caliari.«
Arcangela blickte sie erstaunt an. »Der große zornige Bursche mit dem Pferdemist im Gesicht, der vorige Woche auf der Piazza Onkel Gentile erschießen wollte?«
»Genau der.«
»Jetzt ist klar, wieso er wütend auf dich war«, sagte Arcangela lakonisch. »Als er dich sah, fiel ihm die Sache mit dem Knüppel wieder ein. Wie hast du ihn daran gehindert, dir das heimzuzahlen?«
»Gar nicht. Genauer gesagt: Ich gab mich für meinen Bruder aus.«
Arcangela klappte den Mund auf. »Du tatest was ?«
»Ich sagte, mein Name sei Marino und ich sei mit meiner Schwester hier zu Besuch.« Sie bemerkte Arcangelas fassungslosen Gesichtsausdruck und fügte eilig hinzu: »Mir blieb nichts anderes übrig. Irgendwas musste ich sagen. Etwas, das ihn überzeugte.« Celestina setzte sich im Bett auf und streifte sich die Schuhe ab. »Er hatte mich am Schlafittchen.«
Arcangela stöhnte, doch dann meinte sie widerwillig: »Eine schlaue Ausrede.«
»Ich hab nicht drüber nachgedacht.«
»Was hatte der Bursche ausgerechnet hier beim Haus seiner Erzfeinde verloren? Hieß es nicht, beim nächsten Streit müssten alle Caliari in die Verbannung? Was bringt einen Caliari dazu, ein solches Risiko einzugehen und ausgerechnet hier aufzutauchen, vor der Höhle des Löwen?«
»Ich habe eine Vermutung«, sagte Celestina zögernd. Sie löste ihr Haar, das sie zu einem festen Nackenknoten zusammengerollt hatte. Vor ein paar Tagen hatte sie es auf knappe Schulterlänge gestutzt, damit es besser unter Mützen und Kappen passte und, sobald sie die Mütze vom Kopf zog, nötigenfalls als Haartracht eines jungen Mannes durchging. Für eine damenhafte Frisur war es immer noch lang genug, da sie es als Witwe ohnehin aus Gründen der Schicklichkeit zusammengesteckt unter einer Haube verbergen musste. Nur unverheiratete junge Mädchen trugen das Haar offen. Von daher war sie, ihre Pläne betreffend, als Witwe klar im Vorteil. Bis sie beginnen würde, diese Pläne in die Tat umzusetzen, übte sie Nacht für Nacht, sich in Männerkleidung zu bewegen. Sich zu bewegen wie ein Mann, zu sprechen wie ein Mann, dreinzuschauen wie ein Mann. Zu denken wie ein Mann – nein, das würde ihr wohl nie gelingen. Zu sehr ließen Männer sich von ihren Trieben steuern. Das konnte keine Frau einstudieren, egal wie oft sie Hosen trug.
Der Rest ließ sich leichter erlernen. Celentina ging in Schenken und bestellte Bier, und wenn neugierige Blicke sie trafen, grinste sie überheblich und tat so, als schaute sie den Schankweibern in den Ausschnitt.
»Deine Vermutung«, erinnerte Arcangela sie ungeduldig.
»Ach so, richtig. Ich glaube, Timoteo Caliari ist in unsere Cousine Chiara verliebt.«
Am Dienstag darauf
Im Teatro Anatomico war es an diesem Morgen brechend voll. Timoteo, William und Galeazzo hatten Mühe, einen freien Platz zu ergattern. Sie mussten bis in den obersten Rang des hölzernen Theaters im Obergeschoss der Universität hinaufsteigen und sich an mehreren Kommilitonen vorbeizwängen, um zu einer Lücke vorzustoßen, die ihnen Platz bot.
In den steil aufsteigenden Rängen unter ihnen drängten sich die Zuschauer dicht an dicht. Die besten Plätze in den unteren Reihen hatten sich wie üblich die von der Verwaltung bevorzugten zahlenden Zuschauer gesichert, etwa die anatomisch interessierten Fachleute, vornehmlich praktizierende Ärzte und Chirurgen, sowie daneben nicht wenige
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