Das Mädchen aus Mantua
normalen Bürgern gegenüber im Vorteil. Sein Auge war geschult für jede Art von Angriff oder Hinterhalt. Täuschungsmanöver vermochte er instinktiv zu durchschauen. Möglicherweise nicht nur solche, die sich auf dem Schlachtfeld abspielten …
»Was glotzt du so vor dich hin?«, wollte Timoteo gut gelaunt wissen. Er hob die Hand und winkte der Bedienung. »Einen Becher Bier für unseren Freund Marino!« Zu Celestina meinte er: »Oder willst du lieber Wein?«
»Nein, Bier ist völlig in Ordnung. Ich habe furchtbaren Durst, da ist Bier besser als Wein.« Sie hatte keine Ahnung, ob das zutraf, aber Timoteo schien es nicht anzweifeln zu wollen.
Die Schankmagd kam mit dem Bier, und Timoteo prostete ihr zu. In durstigen Zügen tranken er und Galeazzo anschließend ihr Bier, während Celestina nur an ihrem Becher nippte.
»Bist du eine Maus oder ein Mann?«, wollte Timoteo wissen. »Nach Durst sah das jedenfalls gerade nicht aus.«
»Ich wollte erst probieren, ob es frisch ist.« Mit einer betont männlichen Handbewegung setzte Celestina den Becher erneut an und trank ihn halb leer. Ein Rülpsen unterdrückend, meinte sie großspurig: »Das tat gut.«
Timoteo lachte beifällig. »So ist es recht, mein Junge.« Er winkte der Bedienung erneut. »Gleich noch eins für meinen kleinen Freund hier! Sein Becher ist fast leer!« Aufmunternd lächelte er sie an. »Hast dich wohl wieder fortgeschlichen, oder? Wie erklärst du deine Fahne, wenn dich jemand mitten in der Nacht beim Heimkommen erwischt?«
»Ich lasse mich nicht erwischen.«
»Ah, also doch eine Maus, was?«
Sie lachte über den Scherz, ebenso wie die Männer. Das Bier war kräftig und stieg ihr bereits zu Kopf. Alkohol nahm sie für gewöhnlich nur in kleinen Mengen zu sich, mehr als ein Glas verdünnten Weins trank sie nie. Wenn sie durstig war, hielt sie sich lieber an kühles Brunnenwasser. Bei ihren bisherigen Schenkenbesuchen hatte sie nur so getan, als würde sie trinken.
»Auf deine Zukunft als Doktor, mein Junge!« Timoteo hob erneut den Becher und prostete ihr zu, und sie konnte nicht umhin, einen weiteren ordentlichen Schluck zu nehmen. Ehe sie sich’s versah, hatte sie den nächsten schäumenden Becher vor sich stehen und musste sich weiteren Trinksprüchen fügen. Es wurde über dies und das geredet, ihren Auftritt im Spital, den die Freunde mit Anerkennung kommentierten, die Vorlesungen der vergangenen Woche und den nahenden Beginn der großen Ferien. Celestina nahm wie selbstverständlich an der Unterhaltung teil, ihr Unbehagen hatte sich mit erfreulicher Geschwindigkeit verflüchtigt. Sie fühlte sich in der Gesellschaft der beiden Männer ausgesprochen wohl. Am Ende fand sie sich sogar zu einem Würfelspiel bereit, was natürlich mit einem frischen Bier begossen werden musste.
Ich bin besoffen, dachte sie nach dem vierten – oder fünften? – Becher, eher erstaunt als entsetzt. Das war ihr noch nie passiert. Eine unverzeihliche Entgleisung! Doch der Schreck darüber hielt sich in Grenzen. Tatsächlich machte es ihr nicht das Geringste aus. Im Gegenteil, sie fühlte sich so gut wie schon lange nicht mehr. Ihre Laune war hervorragend, die Angst wie weggeblasen. Wieso hatte sie nicht längst öfter einen gehoben? Das Leben kam einem gleich ganz anders vor, wesentlich spaßiger und ungezwungener. Und … beweglicher. Celestina hätte schwören können, dass ihre Umgebung begonnen hatte, zu schwanken. Die Tür am gegenüberliegenden Ende des Raums hüpfte auf und ab. Und die Schankmagd schien die Neigung zu entwickeln, sich zu verdoppeln, wenn man nicht genau hinschaute.
Plötzlich spürte Celestina, dass ihre Blase bis zum Platzen voll war. Sie stand schwankend auf. »Ich muss mal.«
»Ich könnte auch was von dem Bier wegbringen«, sagte Galeazzo. Er fasste Celestina beim Arm. »Komm, ich stütze dich, sonst fällst du um.«
Sie war zwar betrunken, aber sie erinnerte sich noch glasklar daran, dass es zwischen Männern und Frauen einen entscheidenden Unterschied gab. Der sich vor allem dann zeigte, wenn es ans Urinieren ging. Selbst wenn sie hundert Jahre üben würde, könnte sie nicht erlernen, im Stehen einen Strahl gegen die Wand zu pinkeln. Sie war eine Frau. Sie musste sich die Hose herunterziehen und hinhocken, wenn sie sich nicht besudeln wollte. Ohne zu zögern ließ sie sich zurück auf die Bank plumpsen. »Ach, es geht noch.«
»Wie du meinst.« Galeazzo ging nach draußen.
»He!« Celestina schwenkte ihren leeren Becher
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