Das Mädchen aus Mantua
Hure bezeichnet?«
»Woher soll ich das wissen?«, gab er gereizt zurück. »Ich bin nicht immer dabei, wenn sie über uns herziehen. Doch jedes Mal wird es mir zuverlässig hinterbracht.«
»Von deinen Freunden?«
»Von denen und von anderen. Es ist allgemein bekannt.«
»So wie alle Gerüchte.«
»Ich kann die Wahrheit von Gerüchten unterscheiden!«
»Sicher«, sagte sie resigniert.
Den restlichen Heimweg über schwiegen sie beide.
Timoteo war wie vor den Kopf geschlagen. Die Begegnung vorhin hatte ihn so nachhaltig verstört, dass er um ein Haar unter die Räder eines Fuhrwerks geriet, das vor ihm um die Ecke gezockelt kam.
»Pass doch auf!«, brüllte ihn der Kutscher an.
Er nickte nur mechanisch und eilte weiter. Die Schmerzen in seinem Bein machten ihm klar, dass er zu schnell unterwegs war, aber sie eigneten sich auch dazu, die Lähmung seiner Gedanken zurückzudrängen.
Es war nicht zu fassen! Marino und seine Schwester Celestina waren ein- und dieselbe Person!
Für den verwirrenden Bruchteil eines Augenblicks fragte er sich, ob diese Person Männlein oder Weiblein war, doch dann lachte er grimmig auf. Wie konnte er so dämlich sein, ihre Weiblichkeit auch nur einen Moment lang anzuzweifeln! Schließlich hatte er auf ihr gelegen. Und sie, nachdem er sie vom Pflaster hochgezogen hatte, abgetastet. Ihr Busen mochte nicht besonders groß sein, war aber deutlich fühlbar vorhanden.
Vor allem aber stellte sich die Frage, wieso er auf dieses Possenspiel hereinfallen konnte! Wie hatte er die ganze Zeit mit einem Mädchen reden und dabei ernsthaft glauben können, einen Jungen vor sich zu haben! Was für ein raffiniertes kleines Biest! Alle waren auf ihre Täuschung hereingefallen! Die ganze Doktorandenklasse, einschließlich des Professors. Galeazzo, William. Der Mönch vom Krankenhaus.
Immer wieder schüttelte er den Kopf, während er heimwärts eilte. Ab und zu rieb er sich das Bein, doch er machte keine Anstalten, langsamer auszuschreiten. Der Schmerz zwang ihn, sich darauf zu konzentrieren, die Hintergründe zu begreifen.
Natürlich! Galeazzo hatte ihm berichtet, wie interessiert sie sich gezeigt hatte, als er von seinem Medizinstudium und von Professor Fabrizio gesprochen hatte. Ähnlich hatte sie Timoteo gegenüber reagiert – nur als Bursche verkleidet.
Das waren also ihre Motive!
Diese Frau strebte nicht weniger an als die Doktorwürde der Medizin, und sie war bereit, sich dafür in höchste Gefahr zu begeben. Timoteo hatte zwar keine Ahnung, auf welche Weise man sie bestrafen würde, falls man ihr auf die Schliche käme. Doch er ahnte, dass es sich keinesfalls um ein belächelnswertes kleines Vergehen handelte.
Immer noch zwischen Fassungslosigkeit und Ärger schwankend, kam er zu Hause an und stürmte in die Küche, wo er die mit Spülen beschäftigte Magd damit erschreckte, dass er den Krug mit dem Apfelschnaps aus der Speisekammer holte und sich einen Becher voll einschenkte. Sein Bein brannte inzwischen wie Feuer. Er nahm einen großen Schluck und goss den Rest auf ein Stück sauberes Leinen, dann ging er auf seine Kammer, zog die Beinkleider aus und legte die Schnapskompresse auf die Narbe an seinem Oberschenkel. Die Schmerzen würden davon nicht weggehen, das taten sie nie, aber der Alkohol kühlte die Haut und linderte so die Beschwerden. Wenn er genug Geduld aufbrachte, eine Stunde liegen zu bleiben, würde er für den Rest des Tages keine größeren Schwierigkeiten mehr mit dem Bein haben. Vorausgesetzt, er belastete es nicht mehr über Gebühr.
Es klopfte an der Tür, sein Bruder streckte den Kopf ins Zimmer. »Alles in Ordnung? Die Magd meinte, du hättest dir Schnaps geholt …« Er sah die Kompresse auf Timoteos Schenkel. »Verstehe. Es macht dir wieder zu schaffen, was?«
Timoteo brummte etwas Unverständliches. Mit der Anteilnahme seines Bruders kam er nicht so gut zurecht wie mit dessen Griesgrämigkeit.
»Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen«, meinte Hieronimo.
»Das kann man wohl sagen«, platzte Timoteo heraus. »Ich habe …« Er hielt gerade noch rechtzeitig inne und versagte sich den Rest des Satzes.
»Was?«, wollte sein Bruder wissen.
»Ich bin Guido Bertolucci über den Weg gelaufen«, sagte Timoteo bemüht. »Es roch nach Ärger. Doch seine Cousine aus Mantua kam zufällig vorbei, also ging ich rasch weiter. Glück gehabt.«
Diesmal war es Hieronimo, der ein Brummen von sich gab. Seine Miene offenbarte seinen inneren Zwiespalt. Es fraß
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