Das Mädchen aus Mantua
Arcangela wechselten pikierte Blicke.
Immaculata thronte ungerührt auf ihrem gepolsterten Stuhl. Ihr raubvogelartiger Blick ruhte auf Marta, als handle es sich um ein besonders schmackhaftes Beutetier. Die Situation schien ihr kein bisschen unangenehm zu sein.
Die Magd kam mit einer Essensplatte ins Zimmer. Ihr Gesicht war unbewegt. Stumm blieb sie im Hintergrund stehen.
Lodovico hüstelte. »Möchte noch jemand einen Nachschlag von dem Schweinebraten?«
Celestina gab vor, dem aus einem Lehrbuch dozierenden Professor aufmerksam zu lauschen, doch in Wahrheit bekam sie kaum ein Wort mit. Die ex cathedra gehaltene Vorlesung behandelte die Bedeutung der Viersäftelehre im Kontext der Astrologie, ein Bereich, der aus medizinischer Sicht völlig neu für Celestina war und in überzeugender Darbietung von dem Dozenten vorgetragen wurde. Grund genug, gut aufzupassen und sich alle wichtigen Thesen zu merken.
Doch sie konnte an nichts anderes denken als an das über ihr schwebende Damoklesschwert. Dieses saß in Gestalt von Timoteo Caliari neben ihr auf der Bank im Vorlesungssaal.
Seine Blicke ruhten auf ihr, als wolle er sich vergewissern, dass sie ihm ausgeliefert war.
Beim morgendlichen Aufstehen sowie dem hastigen Umkleiden im Archivraum des Spitals war sie tatsächlich noch so dumm gewesen, sich auf die Vorlesungen zu freuen. Mit jedem Tag, so dachte sie, würde sich die Gefahr der Entdeckung weiter verringern. Als sie wenig später im Innenhof von Il Bo auf Timoteo traf und ihm in die Augen blickte, begriff sie, wie sehr sie sich getäuscht hatte.
Er hatte sie durchschaut.
Seine Begrüßung tat ein Übriges. Die Art, wie er guten Morgen, Marino sagte, genüsslich überdehnt und mit einem unsichtbaren Fragezeichen hinter dem Namen, triefte förmlich von Sarkasmus.
Sie war vor Entsetzen erstarrt und hätte sich der Situation am liebsten durch sofortige Flucht entzogen, doch daraus wurde nichts. Er fasste sie gespielt beiläufig am Arm und hielt sie fest. »Komm, lass uns raufgehen, wir wollen doch nicht zu spät kommen.«
Mit wackligen Knien stolperte sie neben ihm in den Vorlesungssaal und sank auf eine Bank. Wie selbstverständlich belegte er den Platz neben ihr.
Seither fühlte sie sich wie in Tier in der Falle. Jeden Augenblick konnte er aufspringen, mit dem Finger auf sie deuten und sie entlarven. Worauf wartete er?
Er schien ihre Gedanken zu lesen und beugte sich zu ihr. »Wir reden später«, raunte er ihr ins Ohr.
Die Erleichterung durchfuhr sie mit solcher Macht, dass sie fast von der Bank fiel. Mit hörbarem Seufzen ließ sie den Atem entweichen. Er würde sie nicht verraten! Jedenfalls jetzt noch nicht! Wenn er vorher reden wollte, konnte sie versuchen, ihn davon abzubringen.
»Folglich ist die schwarze Galle aus der Milz als Erdelement den Sternzeichen Jungfrau, Steinbock und Stier zuzuordnen«, erklärte der Professor in leicht dialektgefärbtem Latein. Er war einer der jüngeren Dozenten, ein recht gut aussehender Mann in den Dreißigern mit dem einprägsamen Namen Vigo Vespucci. Seinem Akzent zufolge stammte er aus Neapel. »Als solches steht dieser Gallenfluss besonders unter dem Einfluss des Saturn. Der Schleim hingegen, der im Gehirn gebildet wird, unterfällt als wässriges Element den Sternzeichen Krebs, Fische und Skorpion und wird vom Gestirn des Mondes beeinflusst.«
Er dozierte über weitere astrologische Implikationen, doch wie fast alles, was er bereits zuvor erläutert hatte, rauschte es spurlos an Celestina vorbei.
Ihr Herzschlag geriet aus dem Takt, als Timoteo ihr nach dem Ende der Vorlesung bedeutete, ihm zu folgen.
Galeazzo und William wollten sich anschließen, doch er fasste Celestina am Arm und eilte mit ihr davon. »Muss was mit Marino besprechen«, sagte er über die Schulter zu seinen Freunden. »Eine Familienangelegenheit. Wir sehen uns nachher.«
In der Loggia des ersten Obergeschosses drängten sich die Studenten der unterschiedlichen Fakultäten. In dem Stimmengewirr ertönten neben den italienischen Dialekten auch diverse fremdländische Sprachen. Celestina hörte Französisch und Englisch, daneben Spanisch und Portugiesisch, und außerdem schnappte sie Worte einer osteuropäischen Sprache auf, möglicherweise Polnisch oder auch Serbisch. Unter anderen Umständen wäre sie in diesem Moment sicher sehr stolz darauf gewesen, Student an dieser Universität zu sein, die wie kaum eine andere so viele Nationen unter einem Dach vereinte.
Doch in Wahrheit hätte sie
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