Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
wie aus einer Seitengasse ein dünner Junge auf sie zugerannt kam. Er hatte seinen armseligen Hut tief ins Gesicht gezogen und den Kragen seines Wollhemds bis zur Nase hochgeschlagen.
Nun geschah alles in einem Augenblick.
Der Junge stürzte auf sie zu, packte sie an ihren Haaren und riss kräftig daran.
Giuditta fühlte einen heftigen, brennenden Schmerz und schrie auf. Sie sah, wie der Junge eine lange Haarsträhne von ihr in der Hand hielt.
»Verdammte Jüdin!«, schrie er und schnappte sich mit einem Satz auch noch ihren Hut.
Der Junge verschwand so schnell, wie er gekommen war. Vor Schmerz und Überraschung wie gelähmt dachte Giuditta, dass ihr der Junge mit seiner ungewöhnlich gelblichen Haut bekannt vorkam.
»Bleib stehen, du Verbrecher!«, schrie ein Ladenbesitzer. Er versuchte, den Jungen zu packen, aber der wich ihm mit katzengleicher Geschmeidigkeit aus. Der Mann kam auf Giuditta zu. »Wie geht es Euch?«
Giuditta fuhr mit einer Hand zum Kopf an die Stelle, die sie am meisten schmerzte. Ihre Finger ertasteten sogar ein wenig Blut.
Octavia umarmte sie.
»Seid ihr verletzt?«, fragte der Mann.
Giuditta sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Ich kann hier nicht bleiben, ich brauche einen gelben Hut!«, stieß sie hervor. Sie presste auch die andere Hand an den Kopf und schlug den Blick nieder, weil sie sich mit einem Mal nackt fühlte. Sie hastete im Laufschritt zur Brücke zum Ghetto Nuovo, die sie ebenso eilig überquerte.
Octavia folgte ihr. Als sie den Platz erreicht hatten, hielt sie sie auf und umarmte sie wieder.
»Giuditta di Negroponte«, sagte eine Stimme hinter ihnen.
Giuditta und Octavia wandten sich um. Vor ihnen stand Ariel Bar Zadok, der Stoffhändler des Ghettos.
»Was wollt Ihr?«, fragte Octavia abwehrend.
»Giuditta di Negroponte«, begann Ariel Bar Zadok erneut, feierlich und fast ehrfürchtig. Er trat einen Schritt vor. »Wenn Ihr erlaubt … Ich würde Euch gern geschäftlich sprechen und …«
»Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt«, unterbrach ihn Octavia energisch. »Habt Ihr nicht gesehen, was vorgefallen ist?«
»Nein, ich …«, stammelte der Händler verwirrt.
»Sprecht nur, Ariel«, sagte Giuditta fast tonlos. Vielleicht konnte der Kaufmann sie ja von ihrem Schrecken ablenken.
»Giuditta di Negroponte … Also, kurz gesagt, ich möchte Euch meine Stoffe und alle anderen, die Ihr benötigt, liefern, ohne dass Ihr mich dafür bezahlen müsst«, sagte Ariel Bar Zadok und redete immer schneller, während er ihnen seinen Plan erklärte. Seine Hand bewegte sich so zart und elegant in der Luft wie ein Seidentuch. »Über einen Anteil an Euren Entwürfen werden wir uns schon einig werden. Und ich möchte Eure wunderbaren Modelle auch exklusiv verkaufen.«
Giuditta wechselte einen schnellen Blick mit Octavia. Ihre Freundin war genauso verblüfft wie sie selbst.
»Über die Ausschließlichkeitsklausel müssen wir noch nachdenken«, preschte Octavia vor und stieß Giuditta verstohlen an. »Macht uns ein vernünftiges Angebot, dann werden wir es uns überlegen.«
Hinter Ariel Bar Zadok war eine arme Jüdin aufgetaucht. Sie neigte langsam den Kopf und legte ihre rissigen Hände zum Gruß zusammen. »Herrin, wenn Ihr eine gute Schneiderin braucht, wäre ich glücklich, Euch zu dienen«, sagte sie.
»Vielleicht braucht Ihr ja zwei Schneiderinnen«, sagte eine andere Frau mit hochrotem Gesicht, die sich ihnen von hinten näherte. »Ich bin auch tüchtig, und mein Mann ist ein ausgezeichneter Zuschneider, er hat eine Schere und alles, was man braucht.«
Giuditta starrte Octavia erstaunt an. Dann wandte sie sich dem Tor zum Ghetto zu und musste an Mercurio denken. Sie wiederholte sich, dass ihr nichts geschehen konnte. Das eben war nur der Streich eines dummen Jungen gewesen und hatte nichts zu bedeuten. Die Schmerzen an ihrem Kopf ließen auch allmählich nach. Das Leben war doch wunderbar. Sie wandte sich dem Mann zu und lächelte ihn vertrauensvoll an.
Der Junge, der sie angegriffen hatte, hatte inzwischen zahllose Brücken und Uferstraßen hinter sich gelassen, bevor er in eine bestimmte Straße einbog und kurz danach an einer Anlegestelle Halt machte, wo ihn bereits eine Gondel erwartete. In einer Hand hielt er Giudittas Haarsträhne und in der anderen ihren gelben Judenhut. Beides reichte er einer elegant gekleideten Dame, deren Gesicht von einem Schleier verhüllt war.
»Du bist der Beste, Zolfo«, lobte sie ihn.
»Danke, Benedetta.«
49
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