Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
verteilt, knoteten dicke Seile am Bug und an den Schiffswänden fest, an Steuerbord und Backbord, und zogen sie straff. »Los!«, schrie ihr Vorarbeiter. Nun stießen die Gehilfen der Zimmerleute die langen seitlichen Stützstreben um, und andere Männer schoben Balken unter den Kiel, während der Rumpf allmählich mittels der beiden starken Seile am Bug in Richtung Trockendock gezogen wurde. Über eine Rampe rollte der Schiffskörper in das gemauerte, noch trockene Dock vor ihnen, dessen Boden unterhalb der Darsena Nuovissima gelegen war. Als der Rumpf die Mitte des Beckens erreicht hatte, verließen die Männer, die das Schiff gezogen hatten, eilig das Dock und versenkten mit Haken bewehrte Stangen in den Seitenwänden des Schiffes, um es zu stützen. Rund um den Beckenrand versammelten sich nun die Arbeiter, während die Trennwand geöffnet und das Dock geflutet wurde.
Alle hielten den Atem an. Nun würde man sehen, ob das neue Schiff seetauglich war.
Mercurio beobachtete fasziniert, wie das schlammige Wasser schäumend in das Becken hineinlief. Die Schiffshaut ächzte unter dem Druck der Strömung. Als das Dock vollgelaufen war, wurde die Trennwand wieder geschlossen, und unter dem strengen Blick des Proto ging der Meister der Kalfaterer an Bord. Mit einem Hammer überprüfte er den Rumpf Fuß für Fuß von unten nach oben. Anschließend sah er den Proto an und nickte.
Dieser wandte sich den versammelten Arsenalotti zu, deren Augen jetzt auf ihn gerichtet waren, hob die Hände gen Himmel und verkündete: »Die Serenissima hat eine neue Galeere!«
Alle brachen in Jubelrufe aus.
»Nun schließt den Rumpf!«, befahl der Proto. Mercurio beobachtete, wie Zimmerleute, Kalfaterer und alle anderen sich eilig an die Vollendung ihres Werks machten und in Windeseile Zwischenwände und Decks eingezogen wurden und alles an seinen Platz gelangte.
Wie eine Frau, die man beim Ankleiden beobachtet, dachte Mercurio, und sofort kam ihm Giuditta in den Sinn. Eines Tages würde er ihr beim Anziehen zusehen. Vielleicht sogar jeden einzelnen Morgen, wenn das Glück ihm hold war. Wenn sein Traum sich erfüllte.
Das laute Geräusch von Metall in Führungsschienen brachte ihn in die Wirklichkeit zurück. Eine Wand des Trockendocks wurde vollständig geöffnet und die Galeere nach draußen gezogen. Man führte sie an der östlichen Seite der beiden neueren Hafenbecken entlang und danach an der Südseite der Darsena Nuovissima.
Mercurio war während der Fahrt an Bord des Schiffes. Er konnte zusehen, wie jede kleine Einzelheit entstand, nichts blieb dem Zufall überlassen. Und die Zeit verging, ohne dass er es bemerkt hätte.
Blitzschnell hatte man mit zwei hohen, hölzernen Kränen Großmast, Besanmast und Fockmast aufgebaut. Es folgte die Takelage und oben am Großmast der Ausguck, das sogenannte Krähennest. Dann ging es an die Ruder. Lange, penibel bearbeitete Stümpfe aus friulanischem Buchenholz wurden in den Dollen an der Seite der Ruderbänke montiert, wo sich bereits Ketten und verschließbare Ringe befanden. Anschließend wurde die Ausrüstung an Bord gebracht, Pritschen für die Mannschaft und pan biscotto, der Schiffszwieback, der in den Bäckereien des Arsenals aus Mehl, Wasser und ein wenig Salz zubereitet wurde und auf See das Grundnahrungsmittel der Besatzung darstellte.
Schließlich wurden die aus den Gießereien des Arsenals stammenden Kanonen und einige kleine Fässer verladen.
»Schießpulver«, erklärte einer der Gehilfen. »Wenn jemand hier Mist baut, fliegen wir alle in die Luft.«
Als die Galeere fertig gebaut und ausgerüstet dort stand, begriff Mercurio, dass jetzt die Gelegenheit für ihn gekommen war. Er verließ das Schiff und folgte den Gehilfen zum Segellager. Da man ihn inzwischen kannte, konnte er sich zwar frei bewegen, doch er war nie unbeobachtet, weil alle ihm etwas beibringen wollten.
»Proto Tagliafico hat gesagt, er braucht zwei Groß-Oberbramsegel«, wandte er sich schließlich auf gut Glück an einen der Leute dort, die das Lager verwalteten.
Der Mann sah ihn argwöhnisch an. »Was will denn dein Proto mit zweien, wenn er nur eine Galeere baut?«
»Frag ihn das doch selber«, entgegnete Mercurio achselzuckend.
»Nein, ich frag den gar nichts«, erwiderte der Lagerverwalter.
»Also soll ich meinem Proto jetzt sagen, dass er erst herkommen und dich auf Knien darum bitten soll, ja?«, sagte Mercurio frech.
Der Lagerverwalter war es anscheinend nicht gewohnt, mit einem so vorwitzigen
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