Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
erzählt hatte. Und sie wusste auch, wohin Mercurio jetzt so eilig lief.
Mercurio klopfte an die Tür von Tonios und Bertos Haus.
Er musste unbedingt Giuditta wiedersehen. Das war ihm klar geworden, als er Annas Geschichte gelauscht hatte. Ganz gleich, was passierte, er musste mit Giuditta zusammen sein, nur das zählte.
Er ließ sich in Battistas Boot nach Cannaregio bringen. Sie hatten es im Schilf versteckt, um es später neu zu streichen, damit es von den Beamten des Arsenals nicht wiedererkannt wurde. Er verabredete sich mit den Brüdern bei Sonnenuntergang am Campo Sant’Aponal, um gemeinsam zu Scarabello zu gehen und sich ihren Anteil zu holen.
Sobald Mercurio allein war, machte er sich zum Hauptplatz des Ghetto Nuovo auf. Dort setzte er sich hin und wartete darauf, dass Giuditta vorbeikam.
Doch je mehr Zeit verstrich, desto stärker kreisten seine Gedanken wieder um Benedetta. Sie ging ihm einfach nicht aus dem Kopf, auch wenn er sich dabei zunehmend unbehaglich fühlte, als ob sich eine schwarze Wolke über seinem Kopf zusammenballte. Ohne zu wissen, warum, überkam ihn ein Gefühl drohender Gefahr, und ihn fröstelte.
Erst kurz vor Sonnenuntergang, Mercurio wollte gerade zu seiner Verabredung mit Tonio und Berto aufbrechen, erschien Giuditta auf der Fondamenta degli Ormesini zwischen den Spitzen und Organzaschleiern, die wie prächtige Banner vor den Läden hingen. Sobald Mercurio sie sah, verzogen sich wie von Zauberhand die düsteren Bilder aus seinem Kopf. Er wollte ihr gerade entgegenlaufen, hielt dann jedoch inne, als er sah, dass sie nicht allein war. Ein kräftiger junger Mann mit einem kurzen Stock im Gürtel begleitete sie.
Als Giuditta von den Stoffen in ihrer Hand aufblickte, sah sie ihn. Sofort ging ein Leuchten über ihr Gesicht, und sie lächelte. Dann wandte sie sich verlegen an ihren Begleiter und machte ihn mit einer Kopfbewegung auf Mercurio aufmerksam.
Mercurio verstand rein gar nichts. Doch er spürte, wie das Blut in ihm hochkochte. Er musste unbedingt wissen, wer dieser Kerl war, der breitbeinig neben ihr herlief und dabei so wichtigtuerisch seine Umgebung musterte. Er stellte sich Giuditta in den Weg. »Ciao«, sagte er und bediente sich dabei des Grußes, den er von Battista gelernt hatte.
»Dieser Gruß gefällt mir«, sagte Giuditta.
»Was willst du?«, fragte ihr Begleiter sofort, legte seine Hand an den Stock in seinem Gürtel und schob sich zwischen Mercurio und Giuditta.
Mercurio antwortete ihm nicht. Er hatte nur Augen für Giuditta.
»Ein kleiner Junge hat mich angegriffen, und da hat mein Vater Joseph gebeten, mich …«, erklärte sie ihm hastig.
»Angegriffen?«, unterbrach sie Mercurio besorgt.
»Du bist doch dieser Junge vom Tor«, rief Joseph aus und richtete den Zeigefinger auf Mercurio.
»Wer soll ich sein?«, fragte der stirnrunzelnd.
»Verschwinde. Lass sie in Ruhe«, fuhr ihn Joseph drohend an. »Ihr Vater will nichts mit dir zu tun haben.«
Mercurio, der wieder zu Giuditta blickte, las die Überraschung in ihren Augen. Also hatte nicht einmal sie gewusst, warum Isacco ihr Joseph wirklich an die Seite gestellt hatte.
»Ich werf dich jederzeit in den Dreck, wenn ich will, du großer Affe«, gab Mercurio zurück.
Joseph stellte sich in Positur.
Doch da las Mercurio in Giudittas Blick eine stumme Bitte: Sie flehte ihn an, nachzugeben. Und zu gehen.
»Das war doch nicht ernst gemeint, Dickerchen«, sagte Mercurio darauf, sah Giuditta noch einmal tief in die Augen und verschwand.
Kaum war er um die nächste Ecke zu seiner Linken in eine Gasse gebogen, konnte er die Wut nicht mehr zurückhalten. »Verfluchter Mistkerl!«, schäumte er. »Verfluchter Bastard! Verfluchter Mistkerl!« Und als ihn einer der Passanten daraufhin anstarrte, fuhr er ihn mit erhobenen Fäusten an: »Was zum Teufel willst du, Schwachkopf?« Dann lehnte er sich an die abblätternde Fassade eines Hauses und versuchte, tief durchzuatmen, um sich wieder zu beruhigen. Gleich darauf kehrte er zur Fondamenta degli Ormesini zurück und starrte wieder zum Ghetto Nuovo hinüber.
Giuditta, die inzwischen auf der Brücke stand, hatte sich noch einmal umgedreht.
Ihre Blicke kreuzten sich, und dabei versanken ihre Augen ineinander.
Mercurio spürte, dass es ihm nicht mehr genügte, in ihren Augen zu versinken. Er wollte sich nicht mehr damit abfinden, ausgeschlossen zu sein. Er musste einen Weg finden, der Bewachung zu entgehen, damit er Giuditta nicht mehr nur durch das tote Holz
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