Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
sich noch einsamer.
73
G iuditta lief langsam, mit fest aufeinandergepressten Lippen zwischen den Tischen der Schneiderei auf und ab. Ihre Augenbrauen waren zusammengezogen, und ihr Blick war kalt und abweisend.
In der Schneiderei herrschte eine gedrückte Stimmung. Die Näherinnen arbeiteten mit gesenkten Köpfen und eingezogenen Schultern und lauschten ängstlich den langsamen Schritten von Giuditta, die sie neuerdings überwachte.
Im hinteren Teil der Werkstatt nahm der Zuschneider Rashi Sabbatai Maß für die Modelle, zeichnete sie mit raschen Kreidestrichen auf den Stoff und ließ dann die Schere durch den Stoff gleiten. Doch selbst ihn lenkte Giudittas Anwesenheit ab. Denn auch er stand unter Verdacht.
Octavia betrat die Schneiderei und eilte auf Giuditta zu. »Was willst du hier?«, fragte sie leise. »Komm da weg.«
Giuditta blickte sie abwesend an, als würde sie sie nicht sehen. Als wäre eine dicke, unüberwindliche Mauer zwischen ihnen.
»Giuditta, lass diese Frauen in Frieden arbeiten«, fuhr Octavia fort. »Wir sind im Rückstand mit unseren Bestellungen. Wenn du hierbleibst, schaffen sie es niemals …«
»Was schaffen sie nicht?«, fragte Giuditta mit heiserer Stimme wie jemand, der den ganzen Tag noch kein einziges Wort gesprochen hatte. »In den Säumen meiner Kleider in Blut getauchte Rabenfedern zu verstecken?«
»Giuditta …«
»… oder Milchzähne, verknotete Haare, vertrocknete Frösche, Eidechsenschwänze oder Fledermausflügel …«, fuhr Giuditta unbeirrt fort. »Was genau schaffen sie nicht?«
»Giuditta, sie können es nicht gewesen sein …«
»Wer denn sonst?«, fragte Giuditta mit erhobener Stimme.
Rashi Sabbatais Schere hielt auf halbem Weg inne, und die Nadeln der Schneiderinnen verharrten in der Luft. Sie senkten die Köpfe und blickten nach unten.
Giuditta ließ ihre Augen durch die Schneiderei schweifen, während Octavia sie am Arm packte.
»Wie kannst du nur glauben, dass unsere Frauen so etwas tun würden?«, fragte Octavia vorwurfsvoll. » Deine Kleider, wie du sie inzwischen nennst, gibt es nur dank ihnen. Es sind ebenso gut ihre wie deine. Sie sind stolz auf das, was hier geschieht, auf den Erfolg, auf das Geld, das sie bekommen und mit dem sie ihre Kinder großziehen können. Sie sind stolz darauf, einer Gruppe von Frauen anzugehören, die wie Männer Geld verdienen …«
»Lass mich in Ruhe!«, fauchte Giuditta und befreite sich aus Octavias Griff.
»Was ist denn passiert?«, fragte Octavia, und in ihrer Stimme lagen nun Wärme und Mitgefühl.
Giuditta presste die Lippen aufeinander, als müsste sie der Versuchung widerstehen, etwas zu sagen. Sie wandte sich den Näherinnen zu, die sie anstarrten. »Los, arbeitet!«, schrie sie. Dann eilte sie wie auf der Flucht zur Tür der Schneiderei und ging hinaus auf die Straße.
Am Himmel hingen dichte dunkle Wolken. Giuditta kam es vor, als wollten sie sie erdrücken.
Was ist denn passiert?, hatte Octavia sie gefragt.
Konnte sie ihr sagen, dass ihr Leben zu Ende war?
Konnte sie ihr sagen, dass ihr nichts mehr etwas bedeutete, nicht einmal diese Kleider? Konnte sie ihr sagen, dass die Wut, mit der sie die Näherinnen beschuldigt hatte, dass das Misstrauen, mit dem sie ihre Arbeit überprüfte, einzig einem furchtbaren Selbsthass zuzuschreiben war? Konnte sie ihr sagen, dass sie allen den Tod wünschte, nur weil sie sich selbst den Tod wünschte?
Hastig verließ Giuditta das Ghetto, während ihr von dem Durcheinander in ihrem Kopf beinahe schlecht wurde. Und je quälender ihre Gedanken wurden, desto schneller lief sie, als könnte sie sie auf dem Weg hinter sich lassen wie eine schlecht am Kleid befestigte Schleppe.
Konnte sie Octavia wirklich erzählen, dass ihr Leben zu Ende war? Denn das war der alles beherrschende Gedanke. Etwas anderes existierte für sie nicht mehr. Es war Zeit, dass sie es sich eingestand. Und sie selbst war es, die ihrem Leben ein Ende gesetzt hatte. Denn sie hatte Mercurio fortgeschickt.
Atemlos blieb sie stehen. Diese Überlegungen hatten die dicke Mauer eingerissen, die sie versucht hatte, zwischen sich und ihren Gedanken aufzubauen. Doch jetzt sah sie alles klar und deutlich. Sie wusste, was sie bewegte, und sie akzeptierte es. In dem Moment wich die Wut aus ihr und machte einem brennenden Schmerz Platz, den sie bisher von sich ferngehalten hatte. Anfänglich hatte er unterschwellig und pochend wie eine Entzündung in ihr gewütet, doch nach einer Weile, als sie sich nicht mehr
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