Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
Mercurio um, der sie zu dieser Demütigung verurteilt hatte. Die Bande, die ihn in Rom überfallen hatte, hatte sich nicht einfach aufgelöst, sondern war offenbar zutiefst zerstritten. Den Grund hatte diese Jüdin enthüllt, die beschuldigt wurde, eine Hexe zu sein: Benedetta war von Mercurio abgewiesen worden.
Doch keine von beiden würde ihn bekommen, dachte Shimon lächelnd. Mercurio gehörte ihm. Und seine Stunden waren gezählt.
Als der Patriarch seinen Platz erreicht hatte, wandte er sich mit ausgebreiteten Armen der Menge zu und sagte: »Volk von Venedig, heute haben wir die undankbare Aufgabe, einen Betrug aufzudecken, ein falsches Zeugnis, es gilt eine Lüge und Verleumdung zu berichtigen.« Er richtete anklagend seinen beringten Finger auf Benedetta. »Doch ich möchte Euch in Erinnerung rufen, dass neben der einen Zeugin, die hier Lügen gestraft wird, im Laufe dieses Prozesses zehn andere gehört wurden, die absolut glaubwürdig waren.« Er ließ seinen Blick über die Menge schweifen. »Es geht heute also nicht um die Unschuld von Giuditta di Negroponte, sondern einzig um die Schuld von Benedetta Querini.«
Ein Raunen erhob sich.
Mercurio bemerkte beim Blick auf die Zuschauer, dass er den Verlauf des Prozesses offenbar stark beeinflusst hatte. Die Zeugen, auf die der Patriarch anspielte, hatten die Venezianer kaum beeindruckt. Dazu waren ihre Aussagen mit zu vielen unglaubwürdigen Einzelheiten ausgeschmückt oder zu schlecht erzählt worden, und mehr als einmal hatte er als der scheinbar unbeholfene Pater Venceslao sie der Lächerlichkeit preisgegeben. Doch die Absicht des Patriarchen war klar. Er musste den Prozess retten, vor allem aber ging es ihm um den guten Ruf seiner Familie.
Am Tag nach Benedettas Auftreten als Zeugin hatte Mercurio kurz mit Giustiniani sprechen können. Der Adlige hatte ihm gesagt, dass der Patriarch außer sich vor Zorn war und seinen Neffen zwingen würde, Benedettas Aussage zu widersprechen. Und als Mercurio ihn darauf hingewiesen hatte, es wäre doch allgemein bekannt, dass Benedetta die Geliebte von Rinaldo Contarini war, hatte Giustiniani ihm geantwortet: »Die Wahrheit spielt keine Rolle. Es zählt nur, was man behauptet, selbst wenn es den offensichtlichen Tatsachen widerspricht. In Rom werden fünfzehnjährige Sprösslinge edler Familien zu Bischöfen und Kardinälen ernannt, weil sie eines Tages Päpste werden sollen. Fragt man diese Jünglinge nach ihren Liebschaften oder anderen abwegigen Neigungen, streiten sie schlichtweg alles ab, und das gesamte Machtgefüge ist bereit, dies zu bestätigen. Vergiss nicht, in unserer Welt ist Wahrheit das, was die Mächtigen vorschreiben.«
Nun überquerte Mercurio hinkend und unsicher in seiner Rolle als Pater Venceslao die Tribüne und näherte sich Giudittas Käfig. »Zurück, Pater!«, knurrte ihn Lanzafame sofort an.
»Nein«, sagte Giuditta etwas zu schnell. »Er soll …« Sie unterbrach sich und schüttelte den Kopf. »Er stört mich nicht.«
Lanzafame sah sie überrascht an.
»Man führe den Fürsten Contarini herein!«, befahl der Patriarch.
Alle wandten den Blick zur Seitentür des Saals.
Auch Benedetta hatte sich der Tür rechts von ihr zugewandt.
Dort erschien mit seinem üblichen schwankenden Gang Fürst Contarini. Wie immer war er ganz in strahlendes Weiß gekleidet, allerdings war sein helles Gewand diesmal mit Himmelblau abgesetzt. Zwei Pagen begleiteten ihn.
Die Menge erregte sich leise über seine abstoßende Missbildung.
»Ich werde keine Unruhe im Saal dulden«, donnerte der Patriarch mit harter Stimme.
Und die Leute begriffen sofort, was er meinte, da alle anwesenden Soldaten und Wachen ihre Schwerter zückten.
»Ich werde diese Befragung durchführen«, sagte der Patriarch, »da sich Bruder Amadeo da Cortona ganz auf den Prozess wegen Hexerei konzentrieren muss.« Er wartete ab, bis sein Neffe auf dem eigens für ihn bereitgestellten Sessel Platz genommen hatte.
Der verkrüppelte Fürst starrte hochmütig geradeaus, ohne die Menge zu beachten.
Zum ersten Mal empfand Benedetta so etwas wie Mitgefühl für ihn. Vielleicht, weil sie erstmalig sah und miterlebte, dass ihr Geliebter Furcht empfand. Furcht vor dem Patriarchen.
»Fürst Contarini«, begann der Patriarch, »diese Frau dort, Benedetta Querini, hat hier behauptet, Eure Geliebte zu sein. Entspricht das der Wahrheit?«
Der verkrüppelte Fürst wandte sich kaum merklich zu Benedetta um, dann atmete er tief durch und antwortete mit
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