Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
und sie im Körper eines Feindes versenkt hatte, seinen Hass, seine Wut, sein Aufbegehren vor Gott und den Menschen herausgeschrien hatte. Im Grunde hatte Shimon es diesem Verbrecher zu verdanken, der ihm mit seiner eigenen Waffe die Stimme geraubt hatte, wenn er jetzt über eine weitaus mächtigere Stimme verfügte, einer Stimme, die seinem Herzen, seinen Eingeweiden, seinem Menschsein entsprang.
Ja, das war Mercurios Verdienst. Und er würde sich bei ihm noch gebührend dafür bedanken.
Aber zunächst musste er sich bei dem Mädchen bedanken, das ihn als vollkommenen Trottel hingestellt und ihm zugleich eine Lektion erteilt hatte. Denn nach all den Jahren der Lethargie wusste Shimon nun, was es hieß, lebendig zu sein. Er hatte gespürt, was man wirklich für eine Frau empfinden konnte. Er hatte gespürt, wie das Stück Fleisch zwischen seinen Beinen sich mit Blut und Leidenschaft gefüllt hatte. Und schließlich hatte er das berauschende Gefühl ausgekostet, nicht länger der eigenen Angst zu gehorchen. Etwas zu riskieren. Ja, Shimon Baruchs neues Hochgefühl kreiste darum, etwas zu riskieren. Und die Realität hatte bewiesen, dass dem Mann, der etwas riskierte, von den Göttern geholfen wurde. Vielleicht nicht von dem Gott der Juden. Vielleicht hätte dieser Gott ihm gesagt, dass er einen Fehler beging. Aber Shimon hatte auch diese Tür hinter sich zugeschlagen. Er hatte vor dem Gott seiner Väter die Ohren verschlossen. Stattdessen hatten ihn andere Götter beschützt, heidnische, blutige, wilde Gottheiten. Sie hatten ihm ein außergewöhnliches Geschenk gemacht. Er war dazu verdammt gewesen, wegen einer falschen Beschuldigung im Gefängnis zu verrotten. Und nun war er durch Geschehnisse befreit worden, die ganz offensichtlich nichts mit ihm zu tun hatten. Er war noch einmal verschont worden. Und er hatte sich in jenem Räuber wiedererkannt, der ihm das Leben gerettet hatte. In dem Moment hatte er keine Angst vor dem Tod empfunden. Vielleicht Wut, weil er noch eine Aufgabe zu Ende bringen musste, aber keine Angst. Er hatte eine Grenze überschritten, sagte er sich, und nun es gab keinen Weg zurück.
Shimon stand auf und wusch sich das Gesicht. Er überlegte, ob er auch das Schwert säubern sollte, aber diese von dem mittlerweile getrockneten Blut dunkel gefärbte Klinge vermittelte ihm ein Gefühl der Macht. Shimon schwang sich auf das Pferd und gab ihm die Sporen.
Als er das Gasthaus erreichte, band er das Pferd an einer Steineiche fest und setzte sich hin, um zu überlegen. Außer dem General und dem Mädchen befanden sich in dem Gasthaus die beiden alten Mägde und drei Stallburschen. Doch ihn interessierte nur das Mädchen.
Nach einer Weile beobachtete er, wie zwei der Burschen auf einen von einem Maultier gezogenen Karren kletterten und davonfuhren. Und gleich darauf eilte der dritte mit einer Schubkarre in den Wald. Jetzt war der Moment zum Handeln gekommen.
Der General saß vor dem Gasthaus unter einer Pergola und hatte sich eine Karaffe Wein bringen lassen. Er trank bedächtig und wischte sich nach jedem Schluck über seinen weißen Bart. Dann holte er eine kurze Pfeife aus seinem Wams und stopfte sie.
Als er sie gerade anzünden wollte, stürzte sich Shimon blitzschnell auf ihn. Er packte den General an einer Haarsträhne, die ihm in die Stirn fiel, riss ihm den Kopf hoch und presste die Schwertklinge an seinen faltigen Hals. Dann zog er das Schwert mit einem schnellen Ruck nach hinten, sodass die Klinge das welke Fleisch des Generals durchdrang.
Eine der beiden alten Mägde, die gerade mit dem Mittagsmahl für den General aus dem Haus kam, schrie entsetzt auf und ließ den Teller und ihr Messer fallen. Fast hätte sie Shimon überrascht, denn sie bückte sich, schnappte sich das Messer und versuchte, ihn damit zu treffen. Shimon schlug ihr den Griff des Schwerts auf den Kopf. Die Alte stöhnte auf und sackte zu Boden. Shimon ließ sie einfach liegen und betrat das Gasthaus. Als die andere Magd ihn sah, kniete sie nieder, bekreuzigte sich und begann zu beten. Shimon beachtete sie nicht einmal. Er suchte das Mädchen. Als er an einem Fenster vorbeikam, sah er sie draußen davonlaufen.
Sofort eilte er aus dem Gasthaus und griff zu der Armbrust, die er bereits geladen hatte. Es war das erste Mal, dass er eine solche Waffe benutzte. Er atmete tief durch, stützte ein Knie auf den Boden und zielte. Das Mädchen hatte beinahe den ganzen Hof durchquert und näherte sich nun der Scheune. Dort wäre sie
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