Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
flüchteten sie in den Wald. Shimon, der immer noch stumm vor sich hin weinte, hielt an. Das kleine Pferd war nervös geworden, es scharrte immer wieder mit den Hufen und wieherte unruhig. Als Shimon die Laterne der Kalesche anzündete, leuchteten um ihn herum etwa ein Dutzend roter Augen auf. Die beiden Wölfe, die er bei seiner Ankunft gesehen hatte, waren bloß die mutigsten gewesen, dachte Shimon. Das übrige Rudel lauerte im Dunkeln. Er lauschte angestrengt und konnte das leise Heulen der Wölfe hören, denen der Blutgeruch der am Morgen Getöteten in der Nase stach.
Shimon öffnete den Mund und stieß seinen entsetzlichen stummen Schrei aus. Dann ließ er die Peitsche durch die Luft knallen.
Die Wölfe im Unterholz knurrten.
Er verließ die Lichtung und fragte sich, ob er wohl die Kraft haben würde, den eingeschlagenen Weg fortzuführen, seine Rache zu vollziehen und Mercurio zu töten.
Das Mädchen hatte ihm gezeigt, wie schwach er wirklich war.
Hinter ihm stritten die Wölfe wütend um das Fleisch der menschlichen Leichen, und ihr Heulen hallte zwischen den Buchen zum Himmel empor.
Doch Shimon hörte sie nicht. In seinen Ohren klang bloß das Gelächter des Mädchens nach. Denn er war sich sicher, dass sie in dem Moment über ihn lachte.
26
E twas unsicher auf den Beinen und von einem hübschen jungen Mädchen gestützt, betrat die alte Frau den Laden des Goldschmieds am Campo San Bartolomeo. Sie blieb zwei Schritte vor dem Tresen stehen und stützte sich mit leidendem Gesichtsausdruck auf ihren Stock. Auf einmal biss sie die Zähne zusammen, schloss die Lider und bekam einen hochroten Kopf.
»Fühlt Ihr Euch nicht wohl, Signora?«, fragte der Goldschmied.
Die Alte presste weiter die Kiefer aufeinander und schüttelte stumm den Kopf.
Plötzlich ließ sie einen lauten Furz.
Der Goldschmied errötete. Er sah das hübsche Mädchen an, das die Alte begleitete. Es lächelte.
»Ah, welche Erleichterung!«, stöhnte die Alte. Ihre Gesichtszüge, die von einem tief in die Stirn gezogenen Hut und unter einer dicken Schminkschicht aus Bleiweiß verborgen waren, entspannten sich. Sie stützte sich schwer auf den Ladentisch und entblößte beim Sprechen schwarze, verfaulte Zähne: »Zeig mir einen wirklich beeindruckenden Ring, los, mach schon.«
Der Goldschmied war verblüfft. Sicher, die alte Frau war recht gut gekleidet. Soweit durch den Schleier ihres Kleides zu erkennen war, trug sie eine Reihe von Ketten mit riesigen Edelsteinen, die ein Vermögen wert sein mussten. Aber er hatte sie noch nie zuvor gesehen. Der Goldschmied blickte zu ihrer hübschen Begleiterin hinüber.
Das Mädchen lächelte ihn wieder an, diesmal geradezu verführerisch.
»Du Dirne!«, brüllte die alte Frau, die sich gerade in diesem Moment umgedreht und die Kleine beim Lächeln erwischt hatte. Sie hob ihren Stock und ließ ihn mitleidslos auf den Rücken des Mädchens niederfahren, das sich schnell abgewandt hatte. »Du bist doch nichts als eine schamlose Hure!«
»Signora … erlaubt …«, versuchte der Goldschmied schüchtern einzugreifen.
Die Alte sah ihn grimmig an, den Stock hoch erhoben.
Instinktiv wich der Goldschmied einen Schritt zurück.
Die Alte wandte sich wieder dem Mädchen zu. »Du Dirne!«, zischte sie boshaft. Dann wandte sie sich an den Goldschmied: »Das ist keine Dienerin, sondern eine kleine Hure, mein Lieber. Und ich wette, sie wird auch dich einwickeln. Pass bloß auf, das ist eine von denen, die ihre Beine einfach nicht zusammenhalten können.«
Der Goldschmied schluckte verlegen.
»Also, was ist jetzt mit dem Ring?«, schimpfte die Alte. »Muss ich erst zu einem anderen Goldschmied gehen? Ich denke doch, du bist nicht der einzige hier in Venedig.«
»Ich glaube, ich kenne Euch nicht, Signora«, bemerkte der Goldschmied schüchtern. »Darf ich erfahren, wer Euch in meine bescheidene Werkstatt geschickt hat?« Doch sein Blick huschte immer wieder zu der Dienerin, die unter dem Vorwand, ihr sei warm, einen Knopf ihres Hemdes geöffnet hatte.
Die Alte schien dies nicht bemerkt zu haben. Sie richtete den Stock wie eine Waffe auf den Goldschmied. »Wenn das eine bescheidene Werkstatt ist, werden die Schmuckstücke wohl auch danach sein und kaum für mich geeignet«, krächzte sie mit ihrer unangenehmen Stimme. »Los beweg dich, Dirne!«, befahl sie der Dienerin und wandte sich zum Gehen. »Man hat uns schlecht beraten.«
»Wartet doch, Signora …«, hielt sie der Goldschmied auf, bewogen vor allem
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