Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
über eine enge, dunkle Treppe vier Stockwerke nach oben. Hauptmann Lanzafames Heim war eine schmutzige, unordentliche Dachwohnung. Ihnen öffnete eine alte, fette Dienerin, die sich nur schwerfällig bewegen konnte. Sie sah aus, als wäre sie die Haushälterin, und wirkte noch schmutziger als die ganze Wohnung. Auf dem Boden aus groben Holzdielen lag fingerdick der Staub und getrockneter Straßendreck. Außerdem war da ein unangenehmer Geruch nach Körperflüssigkeiten und verdorbenen Lebensmitteln in der Luft.
»Sie ist stumm«, erklärte der Hauptmann und zeigte auf die Dienerin.
Die Frau sah Isacco an und deutete auf eins ihrer Ohren.
»Es schert uns einen Dreck, ob du hören kannst«, sagte Lanzafame. »Wir haben nicht vor, mit dir zu quatschen. Los, beweg dich, Breitarsch.« Der Hauptmann wandte sich an Donnola und Giuditta. »Ihr bleibt hier und wartet.«
Die Alte begleitete Isacco und den Hauptmann in das Zimmer am Ende eines kurzen Ganges. Hier roch es noch strenger. Auf dem Bett lag eine etwa dreißigjährige Frau. Man konnte ihr ansehen, wie sehr sie litt. Sie war bleich und schwitzte. Eine Hand lag auf der Decke, auf dem Handrücken klaffte eine Wunde, die fast bis auf den Knochen ging. Weiter oben auf dem Arm war eine blutige Pustel zu sehen.
»Ist das Eure Frau?«, fragte Isacco.
»Wer? Die da?« Lanzafame lachte dröhnend und geradezu verächtlich auf. Doch dann sagte er leise, und in seinen Augen stand der Schmerz, als wäre er schlagartig nüchtern geworden: »Bitte. Rette sie.«
25
D a er wie ein Hauptmann aus dem Heer des Heiligen Vaters gekleidet war, hatte Shimon beschlossen, nicht entlang der Straße weiterzureiten, um keinen Wachen zu begegnen. Aber das Unterholz war dichter, als er erwartet hatte, und er kam nur langsam vorwärts. Daher erreichte er das Gasthaus erst, als es schon dunkel war.
Er beschloss, für sein weiteres Vorgehen den nächsten Morgen abzuwarten, ließ sich auf einem Felsen neben dem Bach nieder und machte ein Lagerfeuer. Obwohl er nichts zu essen hatte, fühlte er sich nicht geschwächt. Er trank etwas und tränkte auch sein Pferd. Dann legte er sich nieder, um auf den Morgen zu warten.
Er dachte noch einmal über die Geschehnisse in dem Gasthaus nach, wie erschreckend leichtgläubig er auf das Mädchen hereingefallen war, genauso leichtgläubig wie auf Mercurio. Er konnte so viel Hass und Zorn in sich ansammeln, wie er wollte, er mochte sich in einen völlig anderen Menschen verwandelt und für immer die Angst abgelegt haben, die ihn sein Leben lang beherrscht hatte, aber er hatte keinerlei Lebenserfahrung. Mercurio und dieses Mädchen waren Menschen, die von klein auf mit Zähnen und Klauen gekämpft hatten. Sie hatten schnell erkannt, dass sie zu wilden Tieren werden mussten, wenn sie überleben wollten. Er dagegen hatte geglaubt, sein einziges Problem sei, dass er als Jude zur Welt gekommen war. Seinen Beruf und die Handelsbeziehungen hatte er von seinem Vater übernommen, der wie er Kaufmann gewesen war. Und sein Vater wiederum hatte Kunden und Beruf von seinem Vater geerbt. Keiner von ihnen hatte jemals wahre Armut kennengelernt. Und jeder von ihnen war von Angst beherrscht worden. Von der Angst, das zu verlieren, was man besaß, von der Angst, Jude in einer christlichen Welt zu sein, von der Angst, nicht die Regeln der Gemeinde und der Gesellschaft zu brechen, in der sie lebten. Sie alle hatten Angst davor, eine Frau außer der Gemahlin zu haben, die fast immer von den Eltern ausgesucht wurde. Angst davor, Leidenschaft, Zorn, aber auch Freude zu empfinden. Manchmal hatte er sich gesagt, dass er sogar Angst vor der Angst hatte. Aber jetzt bei genauerem Nachdenken glaubte er feststellen zu können, dass er sein ganzes Leben lang Angst davor gehabt hatte, eines Tages keine Angst mehr zu haben. Die Angst war eine treue, tröstliche Gefährtin, die sein Leben auf vorherbestimmten Wegen lenkte. Die Angst ließ keine Veränderungen zu, keine von den offiziellen Meinungen abweichenden Ideen. Die Angst garantierte Stillstand.
Shimon lächelte, als er das erste Morgenlicht durch die Buchenzweige schimmern sah. Jetzt hielt ihn nichts mehr. Sein Schicksal hatte sich gewandelt. Und vielleicht verdankte er das auch Mercurio, der durch den Diebstahl sein Leben zerstört hatte. Der ihn damit gezwungen hatte, sich seiner seit Jahren unterdrückten Natur zu stellen. Im Grunde war es Mercurios Verdienst, wenn er das Gesetz gebrochen hatte, indem er sich eine Waffe beschafft
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