Das Mädchen in den Wellen
versprochen.«
Hatte er das? Nora wusste nichts davon, aber in letzter Zeit war er nicht gerade mitteilsam gewesen.
»Warten wir’s ab.«
Wieder dieser unverbindliche Satz, doch etwas anderes konnte Nora nicht sagen, weil im Zusammenhang mit Malcolm nichts sicher war.
Malcolms Spontaneität hatte sie von Anfang an geliebt. Aber Unzuverlässigkeit war etwas Neues, etwas völlig anderes. Unzuverlässig war er früher nie gewesen, jedenfalls nicht, soweit sie wusste. Sie hatten sich Anfang der Neunziger in Harvard kennengelernt. Nora erinnerte sich gut, wie er sie das erste Mal außerhalb der Kurse angesprochen hatte. Sie hatte in der Bibliothek der juristischen Fakultät für eine Prüfung gebüffelt, und die Augen waren ihr immer wieder zugefallen an ihrem Arbeitsplatz, an dem nur gelegentlich ein Hüsteln oder das Umblättern von Büchern zu hören war. Ihre Zimmergenossinnen, die sich über das Lernen nicht so viele Gedanken zu machen schienen wie sie – manchmal wünschte sie sich ihre Gelassenheit –, feierten wieder einmal eine Party in dem Haus, das sie sich außerhalb des Campus teilten.
Plötzlich hielt ihr jemand die Augen zu. Sie roch Leder, Pfefferminze und Wolle. »Rate, wer.«
J. Malcolm Cunningham, der im Kurs hinter ihr saß. Ein Typ, in dessen Gegenwart sie nervös zu kichern begann und Bleistifte fallen ließ, sie, die sonst für ihre Beherrschtheit bekannt war. Er schien sich seiner Wirkung auf sie bewusst zu sein.
»Malcolm, ich muss lernen«, protestierte sie. Eigentlich hieß er John, aber ihm war sein zweiter Vorname lieber.
Er klappte ihr Buch zu. »Komm, meine Liebe, die Nacht ist noch jung.« Dann schob er ihre Bücher zusammen und nahm ihre Hand. »Du bist zu hübsch, um dich den ganzen Abend hier zu verkriechen.« Er trug einen gut geschnittenen klassischen Kaschmirmantel, Jeans und Budapester, dazu einen Schal um den Hals und kreierte damit seinen eigenen Stil, halb Bohemien, halb Sohn wohlhabender Eltern. Vermutlich hätte er, groß gewachsen und selbstsicher, wie er war, alles tragen können. Beide besaßen ein Stipendium; Nora verdiente sich ein Zubrot mit Babysitten, Malcolm hatte mit seinem Charme einen Bürojob ergattert.
Er führte sie mit lässiger Eleganz die Treppe hinunter und zum Haupteingang hinaus. Draußen war es dunkel; die funkelnden Lichter ließen Cambridge magischer erscheinen als tagsüber.
»Mach die Augen zu«, sagte er.
»Warum?«
»Vertraue mir.«
Sie spürte seinen weichen Mantel an ihrer Wange, als er sie führte. Anfangs kam es ihr vor, als würde sie ins Nichts treten. Sie stolperte. Das Gefühl, nicht zu wissen, wohin es ging, gefiel ihr nicht. Sein Arm schloss sich fester um sie. »Ganz ruhig«, sagte er. »Anfangs ist es schwer, das Gleichgewicht zu finden. Aber ich bin da. Halt dich an mir fest.«
Bei ihm fühlte sie sich sicher. Er war über eins neunzig groß, sie fast dreißig Zentimeter kleiner, sie reichte ihm kaum bis zur Schulter. Mit geschlossenen Augen nahm sie alles bewusster wahr – Geräusche: Schritte, Türen, Autos, das Brummen von Neonröhren, der Wind in den Lorbeerbüschen; Gerüche: chinesisches Essen, Aftershave, Zimt, Kaffee, Auspuffgase; Berührungen: seine Hände, seine Lippen in ihren Haaren, wenn er ihr zuflüsterte: »Stufe aufwärts«, »Stufe abwärts«, »nach links« und schließlich: »Mach die Augen auf.«
»Wo sind wir?«, fragte sie, als sie stehen blieben, und öffnete die Augen. Es begann zu schneien, die Flocken landeten auf ihren Haaren und Schultern. Bald schon würde die Welt sich in ein gedämpftes Winterreich verwandeln, in dessen Mittelpunkt sie standen. Sie spürte die Kälte nicht, nur die Wärme seiner Hände, die die ihren hielten.
Er küsste sie unter den Bäumen der Oak Street mit ihren heruntergekommenen Gebäuden im georgianischen und im Tudorstil. »Schau, das Haus, in dem wir eines Tages wohnen werden. Du und ich, miteinander.«
Als die Mädchen noch kleiner waren, hatte Malcolm die Gutenachtgeschichten vorgelesen, jetzt war das Noras Aufgabe, auch auf Burke’s Island. Als sie die Mädchen an jenem Abend ins Bett brachte, drückte Annie, Siggy im Arm, ihr das Buch mit den irischen Märchen in die Hand. »Du hast es versprochen.«
Nora legte sich neben ihre Tochter. Ein Lesezeichen markierte die Stelle, an der sie und Maeve einmal aufgehört hatten. Nora zögerte.
»Wir können erst lesen, wenn du’s aufmachst«, sagte Annie.
Noras Bewusstsein schien sich in zwei Teile aufzuspalten.
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