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Das Mädchen in den Wellen

Das Mädchen in den Wellen

Titel: Das Mädchen in den Wellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heather Barbieri
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Lag es am Wein? An der Macht der Suggestion? Maeves melodische Altstimme hallte in ihrem Kopf wider. Es war einmal …
    »Mama?« Annie führte sie in die Gegenwart zurück.
    »Entschuldige. Los geht’s.« Nora schlug das Buch mit dem mürben Ledereinband auf. Ein Silberfischchen huschte heraus, und eine kleine Staubwolke erhob sich in die Luft. »Feenstaub«, staunte Annie. »Dreck«, sagte Ella von ihrer Seite des Raums aus. (Sie hatte mit Kreide eine Linie gezogen, eine Vorsichtsmaßnahme gegen schwesterliche Übergriffe.) Der Buchrücken knackte, Wasserflecken verunzierten den Büttenrand des Papiers, und trotzdem wirkten die Illustrationen genauso faszinierend wie früher. Die Bilder und Radierungen waren fein ausgeführt, die Farben bunt, wenn auch ein wenig verblasst. Jede Geschichte begann mit einem verschnörkelten gotischen Buchstaben. »Solche Bücher werden heutzutage nicht mehr hergestellt.« Nora ließ die Finger über die glänzenden Abbildungen von Schlangen, Blumen, Wellen und Seehunden gleiten.
    »Warum nicht?«
    »Zu teuer und zeitaufwendig.« Warum klopfte ihr Herz so wild?
    Nur wenige glauben an die Welt der Fantasie, aber wir tun es, nicht wahr, Liebes? Wieder Maeves Stimme aus der Vergangenheit.
    »Dann können wir ja von Glück sagen, dass wir’s haben«, stellte Annie fest.
    »Ja«, pflichtete Nora ihr bei. »Es ist ein altes Familienbuch. Ich habe es von meiner Mutter.«
    »Wie hieß sie noch mal?«
    Nora hatte kaum je von ihr gesprochen. Im Leben der Mädchen hatte sie keine große Rolle gespielt, auch nicht in dem von Nora, jedenfalls nicht im physischen Sinn. »Maeve.«
    Annie wiederholte den Namen. »Was bedeutet das?«
    »So hieß eine große irische Elfenkönigin.«
    »Hast du das gehört, El?«
    »Bin doch nicht taub«, antwortete Ella und wandte sich Nora zu. »Was ist eigentlich mit deiner Mutter passiert? Du redest nie über sie.«
    »Ich erinnere mich kaum an sie. Sie ist eines Sommers verschwunden, als ich fünf war.«
    »Und nie gefunden worden?«
    Nora schüttelte den Kopf. »Nein.«
    »Spurlos verschwunden?«
    »Spurlos.«
    »Aber du wirst nicht verschwinden, oder?«, fragte Annie.
    »Ich bleibe bei euch.« Nora zog sie zu sich heran. »Welche Geschichte möchtest du heute Abend lesen?«
    Annie ging das Inhaltsverzeichnis durch. »Die hier«, sagte sie schließlich, »über das Boot. Wir …«
    Ella hüstelte und warf ihr einen warnenden Blick zu.
    »Was wolltest du sagen, Liebes?« Nora schob eine Haarsträhne hinter ihr Ohr.
    »Dass wir Boote lieben«, antwortete Annie hastig. »Hier gibt’s so viele.«
    »Ich mag Boote auch«, pflichtete Nora ihr bei. Ihr Vater war ein guter Segler gewesen, hatte sie aber nur wenige Male in seinem Boot mitgenommen, bevor er es verkaufte. Damals musste sie etwa so alt wie Annie jetzt gewesen sein. Er hatte behauptet, es sei zu viel Aufwand, es instand zu halten. Nora fragte sich, ob der Verkauf eher etwas mit seinen Erinnerungen an ihre Mutter und ihre gemeinsame Zeit auf Burke’s Island zu tun gehabt hatte.
    »›Es waren einmal zwei junge Brüder in Killaran‹«, begann Nora. »›Die fanden am Meer ein Ruderboot.‹«
    »Moment«, unterbrach Ella sie. »Warum sind die Helden eigentlich immer Jungs?«
    Wie ihr Mann, der sich gerade um den Titel Ehebrecher des Jahres bewarb, dachte Nora und räusperte sich. »Da hast du recht. Also dann: ›Es waren einmal zwei Schwestern in Killaran …‹«

VIER
    A m folgenden Morgen erwachte Annie aus einem Traum von einem Ruderboot auf saphirblauer See, von riesigen Wellenbergen, von der sich immer wilder drehenden Kompassnadel, von Meerglas, das wie Hagel vom Himmel fiel, der Ozean draußen ein unberechenbarer, unbezähmbarer Verwandter des Meeres im Buch. Was verbarg er? Was würde er bringen?
    »Glaubst du, das Boot ist noch dort?« Annie schlug die Decke zurück und sprang aus dem Bett.
    Ella, die immer länger zum Aufwachen brauchte als ihre Schwester, brummte etwas und vergrub sich tiefer in die Decken.
    Annie wartete nicht auf sie. Sie zog ein Sweatshirt und Shorts an und eilte hinaus. Wildblumen färbten die Wiese mit roten, blauen und gelben Farbtupfen. Annie hob das Gesicht gen Himmel, so dass die leichte Brise ihre Wangen kühlte. Sie breitete die Arme aus. Ich bin ein Drachen, dachte sie. Ich bin ein Vogel.
    Es war Dienstag. Zu Hause ging sie dienstags schwimmen und mit dem Kunstkurs ins Museum. Sie hatten gerade eine Stunde über Picasso und den Kubismus gehabt und für ihren Lehrer

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