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Das Mädchen in den Wellen

Das Mädchen in den Wellen

Titel: Das Mädchen in den Wellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heather Barbieri
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Rodney ein Porträt gemalt. Annie hatte darauf Ellas Gesicht in Flächen zerteilt, weil diese sie dumm genannt hatte. Später, als sie nicht mehr wütend gewesen war, hatte sie deswegen ein schlechtes Gewissen gehabt. Dienstage zu Hause bedeuteten chinesisches Essen, das ihr Vater von Ming’s mitbrachte, jedenfalls noch bis vor Kurzem. Jetzt kam er ja nicht mehr so oft nach Hause. Annie hatte Nora gefragt, ob er in den Süden gezogen sei wie die Gänse. Mit Zugvögeln hatten sie sich in der Schule beschäftigt. Nora hatte den Kopf geschüttelt, aber Annie wusste nicht so genau, ob das die Wahrheit war.
    Auf Burke’s Island gab es keine Gänse, jedenfalls momentan nicht, und auch keine Väter, die nicht nach Hause kamen. Hier verliefen die Dienstage anders. Man musste sich an keinen Plan halten. Sie konnte die Dienstage – und alle anderen Tage der Woche – verbringen, wie sie wollte.
    Annie kletterte die Klippe hinunter. Der Strand war verlassen – bis auf einen Jungen, der mit nacktem Oberkörper und abgerissenen braunen Shorts im seichten Wasser stand, Sand zwischen den Zehen und an den Beinen. Seine tiefbraune Haut glänzte nass, als wäre er gerade aus dem Meer gekommen. Er mochte acht oder neun Jahre alt sein.
    »Hallo«, begrüßte Annie ihn, glücklich darüber, jemandem in ihrem Alter zu begegnen. »Wohnst du hier in der Nähe?«
    Er nickte. Seine Augen waren dunkel und wachsam.
    »Ich heiße Annie.«
    »Ich bin Ronan.«
    »Klingt wie der Name von einem Superhelden. Hast du Superkräfte? Ich kann fliegen, siehst du?« Sie sprang von einem Felsen.
    Er lachte.
    »Darf ich dich Ronie nennen?«
    »Wenn du möchtest.«
    Sie bemerkte den Krebs mit aufgebrochenem Panzer in seiner Hand. »Was ist das?«
    »Frühstück«, antwortete er.
    »Wie Krabbencocktail ohne Sauce.«
    »Frisch schmeckt er am besten.« Er leckte sich die Lippen. »Nächstes Mal bringe ich dir einen mit.«
    »Von wo?«
    »Von da draußen.«
    »Wir sind vor ein paar Tagen mit der Fähre gekommen, sonst war ich noch nie auf dem offenen Meer. Tümmler haben uns begleitet. Ich wollte anhalten und schauen, aber der Kapitän hält nicht einfach so an. Mama sagt, er hat einen festen Zeitplan. Im Meer gibt’s viele Dinge unter der Oberfläche, stimmt’s?«
    Er nickte. »Schau.« Jenseits der Felsen tauchten wie aufs Stichwort zwei Wale auf und platschten ins hoch aufspritzende Wasser zurück.
    Annie stockte der Atem.
    »Buckelwale auf Wanderschaft.«
    Etwas Spektakuläreres als Wale hatte sie nicht zu bieten. »Ich habe ein Boot«, sagte sie und deutete in Richtung der Treibholzhaufen. »Möchtest du’s sehen? Ich hatte Angst, dass die Flut es wegspült.«
    »Die Flut steigt normalerweise nicht so hoch.« Die Wellen zeichneten Schaumlinien auf den Strand.
    Annie wollte gerade eine Fahrt zur Antarktis vorschlagen, um die Pinguine anzusehen, als Ellas schrille Stimme von der Klippe herunterklang. »Annie, wo steckst du?«
    »Wer ist das?«, fragte Ronan.
    »Meine Schwester. Sie ist zwölf. Wir könnten uns verstecken, so tun, als wären wir nicht da.« Sie hatte keine Lust, Ronan mit Ella zu teilen.
    »Sie würde nach dir suchen. Ich verschwinde lieber«, erklärte Ronan.
    »Du brauchst nicht …«
    Er legte einen Finger an die Lippen. »Erzähl niemandem von mir. Ich darf eigentlich nicht hier sein.«
    »Wer sagt das?« Er war wirklich ein sehr merkwürdiger Junge. Der merkwürdigste, wunderbarste Junge, den sie kannte.
    »Meine Mutter. Versprich’s mir.«
    »Ich hab dir das Ruderboot noch nicht gezeigt …« Sie wollte nicht, dass er ging, wollte ihm noch so vieles zeigen und sagen.
    »Nächstes Mal.«
    »Aber ich weiß nicht, wo du wohnst«, widersprach sie.
    »Ich finde dich schon. Versprich mir, niemandem von mir zu erzählen.«
    »Ich versprech’s.«
    Er verschwand zwischen den Felsen.
    Wenig später tauchte Ella auf. »Was machst du ganz allein hier?«, fragte sie.
    »Ich spiele.« Annie hätte ihr gern von Ronie erzählt, aber versprochen war versprochen, und letztlich hatte sie auch gern einen besonderen Freund für sich, denn Ella neigte dazu, das Kommando zu übernehmen. Beobachtete Ronie sie von den Felsen aus? Sie nahm eine paar Algen in die Hand, drapierte sie um ihren Hals und stolzierte am Strand auf und ab. »Schau, ich trage einen Nixenschal.«
    »Igitt. Nimm das Zeug runter. Es stinkt.« Ella rümpfte die Nase.
    Ronie hätte so etwas nicht gesagt. Er hätte gelacht.
    »Die Algen riechen nach dem Meer«, erklärte Annie. »Daran

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