Das Mädchen in den Wellen
ist nichts Ekliges.« Sie atmete ihren Geruch tief ein, während sie sie aus den Händen gleiten ließ. »Vielleicht nähe ich mir ein Kleid daraus und gehe auf den Meergeisterball!«
»Lass mich raten: Den veranstalten die Meermenschen.«
»Genau! Wenn du möchtest, nehme ich dich mit.«
»Danke fürs Angebot, aber ich verzichte.«
»Ich wette, du würdest es dir anders überlegen, wenn einer der Jungs aus dem Ort hinginge.«
»Keine Ahnung, was du meinst«, sagte Ella errötend.
Da Ella nur selten so unsicher wirkte wie jetzt, ließ Annie das Thema. Ihr war aufgefallen, dass ihre Schwester ziemlich viel über Jungen redete (mit ihren Freundinnen, nicht mit Annie), aber nur selten mit ihnen selbst sprach. »Hilfst du mir mit dem Boot?«, fragte Annie stattdessen und stöhnte auf. »Wir haben vergessen, im Laden Farbe dafür zu kaufen.«
»Wir können die Reste vom Cottage nehmen, falls wir die Zimmer jemals streichen.« Ihre Mutter hatte die Eimer noch nicht einmal aus der Tüte geholt, sie nur in die Kammer gestellt, als wollte sie die Begegnung mit Maggie Scanlon im Geschäft vergessen.
»Das Boot braucht bloß eine neue Schicht Lack«, sagte eine Stimme hinter ihnen. »Solche Boote streicht man nicht. Man soll sehen, woraus sie bestehen, die Maserung des Holzes, ihre Haut. Sie müssen atmen können.«
Ein älterer Mann stand, auf seinen Gehstock gelehnt, auf dem Weg über ihnen. Er trug eine weite Twillhose wie früher ihr Großvater, ein braunes Sportsakko und eine ausgeblichene Tweedkappe. Er musste von der Klippe gekommen sein. Annie vermutete, dass er Ronan begegnet war, aber sie traute sich nicht zu fragen.
Der Border Collie des Mannes rannte schwanzwedelnd und bellend die Uferböschung herunter. »Keine Angst vor Patch. Der tut nichts. Freut sich nur, euch zu treffen. Hier kommt nicht oft jemand her«, erklärte der Mann mit leiser, ein wenig rauer Stimme. Ihm fehlte wie Annie ein Zahn. Ob die Zahnfee auch ältere Menschen besuchte? »Wo kommt ihr zwei denn her?«
»Aus Boston«, antwortete Annie.
»Aha, aus Boston. Das ist ganz schön weit weg.«
Patch sprang an Annie hoch und leckte über ihr Gesicht. Wahrscheinlich, dachte sie, hieß der Hund wegen des schwarzen Flecks über seinem linken Auge »patch« – »Augenklappe«. »Wir sind nur den Sommer über da«, erklärte Annie.
»Wie die Zugvögel, so, so. Und wo wohnt ihr?«
»Im Cottage von unserer Großtante Maire, da drüben.«
Ella zupfte sie am Ellbogen. Annie schüttelte sie ab. Was? Tante Maire kannte ihn wahrscheinlich sowieso, warum also die Vorsicht?
Er wirkte nachdenklich. »Die verlorene Tochter kehrt zurück …«
»Was meinen Sie damit?«, erkundigte sich Ella.
»Es ist lange her, dass eure Mutter auf der Insel war. Ich erinnere mich gut an sie.«
»Sie waren damals hier?«, meinte Ella.
»Ich lebe immer schon auf Burke’s Island, bin einer der Ältesten auf der Insel. Mein Name ist Reilly Neale. Ihr wollt das Boot herrichten? Das hat eurer Großmutter gehört, als sie jung war – und davor ihrem Vater. Keine Ahnung, wie das Ding die Zeit überdauert hat. Muss guter Lack drauf sein. Würde mich interessieren, welcher.«
»Vielleicht Zauberlack«, sagte Annie.
»Möglich.« Um seine Augen bildeten sich Lachfältchen. »Ich könnte es für euch seetüchtig machen, wenn ihr mir versprecht, in der Bucht zu bleiben. Das Material dafür hab ich zu Hause.«
Annie sah ihre ältere Schwester an. Fachmännischen Rat konnten sie gebrauchen.
»Kennen Sie sich mit Booten aus?«, fragte Ella.
»Ich? Ich war auf dem Wasser, seit ich laufen konnte. Und da wäre ich immer noch, wenn ich nicht so schlecht sehen würde.«
»Na schön«, meinte Ella. »Sie sind angeheuert.«
»Wir haben aber nicht viel Geld«, warnte Annie ihn, damit er sich keine falschen Hoffnungen machte.
Er lachte. »Betrachtet es als milde Gabe. Bin gleich wieder da«, versprach er. »Ich wohne auf der anderen Seite der Landspitze.«
Eine halbe Stunde später kehrte Reilly nicht nur mit Verfugungsmasse und Lack, sondern auch mit Kartoffel-Käse-Küchlein, Keksen, drei Bechern und einer Thermosflasche Limonade zurück, die er in einen Tragegurt auf Patchs Rücken geschnallt hatte. »Hab mir gedacht, ihr möchtet nach der Arbeit vielleicht ein Picknick machen.« Als er sich auf ein Stück Treibholz setzte, verzog er das Gesicht. »Arthritis«, erklärte er. »Im Alter nutzt sich der Körper ab.«
»Wie alt sind Sie?«, erkundigte sich
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