Das Mädchen in den Wellen
ihn zugegangen. Er drückte die Tür auf und schob sie rückwärts zum Bett. Nacheinander fiel alles von ihr ab – ihre Kleidung, ihre Pflichten, ihre Vergangenheit.
Sie sah in seine Augen; er erwiderte ihren Blick. Malcolm hatte bei der Liebe immer die Augen geschlossen und sie meist schnell genommen, Distanz gehalten. Als sie ihm gesagt hatte, was sie sich wünschte, war er aus Angst, versagt zu haben, in die Defensive gegangen, und so hatte sie fortan den Mund gehalten. Manchmal befriedigte er sie, manchmal spielte sie ihm etwas vor, weil sie es nicht ertragen konnte, die Enttäuschung in seinem Gesicht zu sehen. Der Sex musste nicht immer atemberaubend sein. Schließlich waren sie fünfzehn Jahre verheiratet.
Owen war anders, und mit ihm war auch sie anders. Er zeichnete die Tätowierung an der Innenseite ihres Handgelenks nach. Sie erkundeten einander flüsternd. Mit ihm erschien ihr alles neu. Alles. Sie begann zu weinen. »Was ist?« Er streichelte ihre Wange. »Es ist so schön«, antwortete sie unter Tränen. Der Raum schien zu erglänzen, und die Wellen, die draußen an den Strand schlugen, gaben durchs offene Fenster den Takt an.
FÜNFZEHN
S timmen näherten sich. Nora blinzelte verwirrt. Wer war das? Wo war sie?
Ihr Blick und ihr Kopf wurden klarer: im Cottage.
»Mama, wir sind wieder da!« Die Mädchen rannten über den Pfad aufs Haus zu.
Nora setzte sich voller Panik auf. Owen. Sie durften ihn nicht sehen. Nora blickte sich im Zimmer um. Keine Spur von ihm. Wo steckte er?
Jetzt war keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie schlüpfte hastig in T-Shirt und Shorts, da riss Annie auch schon die Tür auf und stürzte sich auf sie. »Aufwachen, Schlafmütze!«
»Wie spät ist es?«
»Früh am Tag. Wir hatten solche Sehnsucht nach dir, da sind wir gleich hergekommen.«
Ella schaute sich kritisch um.
»Hast du dich ohne uns einsam gefühlt?«, fragte Annie. »Deine Haut glänzt ja.« Sie strich darüber.
»Sand«, erklärte Nora. »Ich hab nicht mehr geduscht.«
»Tante Maire sagt, du wärst heimgegangen, um ein Bad zu nehmen. Ich hab heute Nacht den Wagen gehört und dich vom Fenster aus gesehen«, stellte Ella fest.
»Zum Baden bin ich nicht mehr gekommen.« Nora rieb sich gähnend die Augen. Dabei merkte sie, dass Owens Geruch noch an ihr haftete. Sie konnte nur hoffen, dass das den Mädchen nicht auffiel.
»Bist du lange aufgeblieben?«, erkundigte sich Annie.
»Noch ein bisschen.«
»Ich dachte, du warst müde«, sagte Ella. »Was hast du gemacht?«
Sie konnten sich nicht vorstellen, dass sie ein Leben jenseits des ihren besaß. »Gelesen.« Es war kein schönes Gefühl, sie anzulügen.
»Weit bist du aber nicht gekommen.« Ella warf einen Blick auf die Taschenbuchausgabe von Die Frau in Weiß , die auf dem Nachtkästchen lag. Das Lesezeichen markierte eine Stelle ziemlich weit vorne.
»Ich hab mir Zeit gelassen. Aber ich möchte jetzt nicht darüber reden. Wie ihr wisst, bin ich ein Morgenmuffel.« Sie musste aufpassen, was sie sagte. Für die Mädchen war sie ausschließlich ihre Mutter; sie durfte sie nicht enttäuschen oder verwirren, indem sie ihnen andere Seiten offenbarte.
Ella betrachtete die zerknitterten Laken, die Ausbuchtung im zweiten Kissen. »Du scheinst ganz schön unruhig geschlafen zu haben.«
»Das tue ich doch immer. Ich träume viel.«
»Schlecht?«, fragte Annie.
»Keine Ahnung«, antwortete Nora und wechselte das Thema. »Ihr habt bestimmt Hunger. Ich mache euch Frühstück.« Sie scheuchte sie aus dem Zimmer und ging in die Küche, um Frühstücksflocken in Schalen zu geben und den Toaster anzuwerfen.
Beim Frühstück musterte Ella sie intensiv. »Hast du was von Dad gehört?«
»Nein.«
»Du hast das Handy nicht ausgeschaltet, oder?«
»Das würdest du besser wissen als ich.« Nora hob eine Augenbraue.
Ella schlürfte die Milch.
Das Geräusch ging Nora durch Mark und Bein. »Ich weiß, dass er dir fehlt.«
Annies Blick wanderte zwischen ihnen hin und her.
»Du hast ihm nicht verziehen, stimmt’s?«, fragte Ella. »Aber uns sagst du schon immer, wir sollen vergeben und vergessen.«
Ja, die unwichtigen Dinge, über die die Geschwister sich gern in die Haare gerieten. Doch das mit Malcolm war etwas anderes. »Nur weil wir uns getrennt haben, heißt das noch lange nicht, dass wir euch nicht lieben«, erklärte Nora, ein Satz, den sie in den vergangenen Wochen oft wiederholt hatte. »Wir lieben euch beide sehr.«
»Tatsächlich? Warum hast du uns dann
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