Das Mädchen in den Wellen
aufgefallen.
Die Fischer wichen weiter zurück. Nora hatte nicht geahnt, dass Owen so bedrohlich klingen konnte.
»Du bist allein, oder?« Der Größte der drei sah sich um. »Du hast uns gar nichts zu sagen.«
Owen ging wortlos auf sie zu. Nora nahm die Schlüssel in die rechte Hand und ballte die Finger darum.
»Er sucht Streit«, stellte der Anführer fest, nahm eine leere Flasche aus einem übervollen Mülleimer und fuchtelte damit herum.
»Immer mit der Ruhe, Dec«, sagte einer seiner Kumpel und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
Owen baute sich dicht vor ihm auf. Nora konnte sein Gesicht nicht sehen. »Verschwinde.« Owens Stimme klang kehlig, fast wie ein Knurren. Seine nächsten Worte verstand sie nicht, weil die Seehunde vom Hafen heraufbellten.
Die Männer zogen sich zurück. »Okay, okay.« Als wäre alles ein Scherz gewesen. Sie trollten sich und verschwanden in der Kneipe.
Nora legte den Kopf erschöpft aufs Lenkrad und hob ihn erst wieder, als Owen an den Wagen trat. »Ich hatte alles unter Kontrolle«, erklärte sie, bemüht ruhig.
»Klar.« Falls er ihr Zittern bemerkte, sagte er nichts. »Ist trotzdem nicht schlecht, Unterstützung zu haben, oder?«
»Stimmt.« Ihr Puls raste immer noch. »Soll ich dich mitnehmen?«, fragte sie mit leiser Stimme.
»Warum nicht?« Er stieg ein. »Ist ein langer Fußmarsch zur Hütte. Gut, dass ich vorbeigekommen bin. Waren nicht grade die vertrauenerweckendsten Typen, was?«
»Nein.« Nora fragte sich, wie sicher sie und die Mädchen sich im Cottage fühlen konnten oder ob sie befürchten musste, dass die Männer sie dort aufsuchten. »Hoffentlich kommen sie nicht zu uns raus.«
»Wenn ja, kriegen sie’s mit mir zu tun.«
»Machst du jetzt auch noch meinen Leibwächter? Du bist ja ein richtiger Allroundmann.«
»Zerbrich dir nicht den Kopf über sie. Das sind Dampfplauderer.«
»Und sie saufen gern.«
»Genau. Morgen früh haben sie wahrscheinlich alles vergessen.«
»Hoffentlich kriegen sie einen ordentlichen Kater.« Nora würde die Begegnung nicht so schnell vergessen. Sie drehte den Schlüssel im Zündschloss und lenkte den Wagen auf die Straße. Blinker. Öl. Benzin. Geschwindigkeit. Jetzt hatte sie wieder alles im Griff. Sie sah Owen an. »Du bist ja ganz nass«, stellte sie fest.
Die Haare klebten ihm am Kopf. »Kann passieren, wenn’s regnet.«
»Aber es regnet nicht.«
Ein Tropfen, dann ein weiterer landete auf der Windschutzscheibe.
»Du scheinst hellseherische Fähigkeiten zu besitzen«, sagte sie.
»Eher nicht. Vom Pier her zieht ein Sturm auf.«
»Was hast du hier gemacht?«
»Einen Abendspaziergang.«
»Ganz schön weit von der Hütte weg.«
»Bloß ein paar Kilometer. Ich laufe gern.«
Sie fuhren aus dem Ort hinaus. »Jedenfalls bin ich froh, dass du heute Abend da warst«, sagte sie. »Ich weiß, dass ich dich nicht immer mit offenen Armen empfangen habe.«
»Umso schöner ist es, deine Wertschätzung zu erringen«, erklärte er. »Die Landspitze ist für mich zu einer zweiten Heimat geworden.«
»Wo befindet sich deine eigentliche Heimat?«, fragte sie. »Du hast doch sicher irgendwo Familie und ein anderes Leben. Jemanden, dem du fehlst …«
Er schwieg eine ganze Weile. »Heute beim Schwimmen ist mir etwas eingefallen. Dass meine Eltern bei einem Bootsunglück ums Leben gekommen sind, als ich ein kleiner Junge war«, erzählte er. »Allmählich kommen Erinnerungssplitter zurück. Seitdem bin ich, glaube ich, die meiste Zeit über allein gewesen. Schon komisch, was für Dinge einem da draußen widerfahren können.«
»Sorry. Ich wusste nicht …« Sie hatte immerhin noch ihren Vater gehabt und nicht alles verloren. Nora hatte während seiner letzten Stunden im Krankenhaus, nach seinem Schlaganfall, seine Hand gehalten, als er nicht mehr in der Lage gewesen war zu reden. Sie konnte nur hoffen, dass er gehört hatte, wie sie ihm für alles dankte. Das hatte sie nie zuvor getan, weil sie nicht damit rechnete, dass er so früh gehen würde.
»Woher auch.«
Sie verstummten. Nun war nur noch das Geräusch des Scheibenwischers zu hören, der sich im Halbkreis über die Windschutzscheibe bewegte. Der Regen wurde stärker. Nora schaltete das Licht ein.
»Er ist weg?«, fragte Owen.
»Wer?«
»Dein Mann.«
Es war merkwürdig, dieses Wort aus seinem Mund zu hören.
»Ja. Sein Besuch war unerwartet.«
»Ja?«
»Ja. Er ist nicht meinetwegen gekommen, sondern wegen der Mädchen.«
»Bist du sicher?«
Ja. Nein. Sie
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