Das Mädchen in den Wellen
konnte sie nicht fragen, keine Erlaubnis von ihr erbitten. Es würde keine Gespräche mehr zwischen ihnen geben, weder tiefgründige noch banale. Sie konnte nur aus dem, was sie hinterlassen hatte, mehr erfahren – also auch aus diesem Tagebuch.
»Hast du was gefunden?«, fragte Annie.
»Tante Maire war eine richtige Sammlerin, was?«, fragte sie zurück, um keine Antwort geben zu müssen.
»Der Speicher ist wie eine große Schatztruhe.«
Das Tagebuch der größte Schatz von allen.
Nora würde später entscheiden, ob sie es lesen würde.
Ella machte gerade die Terrasse sauber, als Nora und Annie nach unten kamen. »Ich wusste gar nicht, dass du so gut mit dem Besen umgehen kannst«, bemerkte Nora. »Wie ein richtiger Profi.«
»Anderer Leute Dreck wegmachen kann ich gut.«
»Vielleicht möchtest du dir dann als Nächstes das Cottage vornehmen.« Sie wurden des Sands, der ständig herangeweht wurde, kaum noch Herr.
»Wie du meinst«, sagte Ella ruhig, deren Laune sich verbessert zu haben schien.
Polly rief aus der Küche: »Ist alles in Kartons verstaut. Soll ich euch helfen, die Sachen zum Cottage zu tragen?«
»Wir nehmen nur, was wir in den nächsten Tagen verbrauchen können«, antwortete Nora. »Du und Alison, nehmt euch das andere. Maire hätte es so gewollt.«
»Sollen wir wirklich nicht bleiben? Wir müssen nicht unbedingt in den Ort zurück«, sagte Alison.
»Wir kommen zurecht, danke.«
Pollys Blick wanderte zur Landspitze, wo Rauch aus dem Kamin der Fischerhütte stieg. »Stimmt, ihr habt ja Owen.«
Alison, die zwei und zwei zusammenzuzählen schien, lächelte vielsagend.
Nora dachte nicht daran, Ella zu fragen, was sie in der vergangenen Stunde, die nicht ganz mit dem Fegen der Terrasse hatte ausgefüllt sein können, gemacht hatte.
ZWANZIG
A ls die Mädchen im Bett lagen, setzte Nora sich an den Kamin und schnitt das Band durch, das das Tagebuch zusammenhielt. Sie zögerte, es aufzuschlagen. Blütenblätter fielen von den spätblühenden Taglilien in der Vase auf den Tisch. Als Maire Nora den Strauß vor ihrem Tod gebracht hatte, waren die Blüten geschlossen gewesen. Nun welkten sie. Ein Zeichen? Möglich.
Beim Lesen des Tagebuchs glaubte Nora, die Stimme ihrer Tante zu hören, als wäre sie bei ihr im Zimmer. Die Einträge waren in schlichter, lebhafter Sprache gehalten.
Ich dachte, Dad würde sich über meine Noten freuen, aber er redete die ganze Zeit nur von Maeve. Dass sie dieses Jahr Königin der Flotte wird, auf dem Festwagen durch den Ort fährt und alle klatschen und jubeln. Als er mein Gesicht sah, sagte er, ich würde auch in einem oder zwei Jahren Königin der Flotte werden. Aber ich weiß, dass das nicht stimmt. Ich bin kein Mädchen, das alle bewundern. Alle stimmen für …
Habe mich heute mit Maeve gestritten. Sind mit Bürsten aufeinander losgegangen, Blut ist geflossen. M. hat Mam vorgeflunkert, sie hätte sich den Kopf angestoßen. Es gibt Dinge, bei denen wir dichthalten. Die Wunde wird eine Narbe hinterlassen. Eine Erinnerung an mich …
Habe heute in meinem Zimmer geweint. Johnny B. hat gehört, dass ich ihn mag, und mich behandelt, als wäre ich aussätzig. Gemeinheiten, um seine Verlegenheit zu überspielen. Schwärmen. Ich hatte keine Ahnung gehabt, wie viel Gewicht das Wort haben, wie sehr es einem Menschen schaden kann. Maeve hat mich gezwungen, ihr zu erzählen, was los ist. Ihr kann ich nichts lange verheimlichen. Sie sagt, wenn ich will, schlägt sie ihm ein blaues Auge. Ich hab sie noch nie so wütend erlebt. Sie findet es in Ordnung, wenn sie mich zum Weinen bringt, doch wenn andere das machen, beschützt sie mich. Ich hab ihr gesagt, sie soll ihn nicht verprügeln, mich aber gleich besser gefühlt, als ich wusste, dass sie mir helfen würde.
Bei der Tanzveranstaltung stand Maeve wie üblich im Mittelpunkt. Die Mädchen waren eifersüchtig, weil die Jungs nur sie anhimmelten und ihr die Süßigkeiten und Blumen gaben, die eigentlich für ihre Partnerinnen bestimmt waren.
Mich sieht nie jemand so an. Ob sich je einer für mich interessieren wird?
Heute hat Dad einen Mann in den Hafen geschleppt, dessen Segelboot mit gebrochenem Mast im Sturm gekentert war. Dad meint, er kann von Glück sagen, dass er noch am Leben ist. Er wohnt vorübergehend in der Fischerhütte. Dad scheint ihn zu mögen. Ich mag ihn auch.
Er bleibt. Ich weiß nicht, wie lange. Manchmal beobachte ich ihn von der Wiese aus. Maeve hat mich dabei erwischt und gedroht, es ihm zu
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