Das Maedchen mit dem Stahlkorsett
den Runen geweckt wurde und sie durchströmte. Auch das X und das gezackte S brachten jeweils neue Empfindungen mit sich, während die Tinte in die Haut befördert wurde. Vielleicht bildete sie es sich nur ein, doch sie gewann den Eindruck, als beruhigte sich etwas in ihr, das vorher nicht im Gleichgewicht gewesen war – als sei sie eine Waage, die endlich auf beiden Armen gleich viel Gewicht trug.
Gelegentlich hielt er inne und wischte ihr den Rücken ab, was sie noch unangenehmer fand. Sie betrachtete das Tuch auf dem Tisch. Abgesehen von schwarzer Tinte zeichneten sich auch Blutflecken ab.
»Blute ich etwa?«, rief sie ungläubig. Davon hatte er nichts gesagt!
»Das ist normal«, beruhigte er sie. »Entspann dich, Finley. Ich bin gleich fertig, und wenn du ein braves Mädchen bist, schenke ich dir einen Keks.«
»Mit Schokolade?«, fragte sie. Wenn sie sich schon bestechen ließ, dann sollte es sich auch lohnen.
»Aber sicher. Bin fast fertig.« Zwei Symbole blieben noch. Die Nadel summte und zwickte, es war etwas lästig, aber nicht schmerzhaft. Abermals spürte sie, wie die Symbole neue Kräfte in ihr entfesselten.
Die Macht der Runen, erklärte Griffin ihr, hing nicht davon ab, wie groß die Symbole gezeichnet waren. Es kam nur auf die Absicht und den Willen dahinter an.
»Fühlt sich meine Schulter deshalb so heiß an? Wegen deiner Magie?«
»Ich weiß nicht, ob ich das Magie nennen würde, aber man könnte es vielleicht so ausdrücken. Es sind spirituelle Symbole, die mit der ätherischen Energie in dir zusammenarbeiten sollen. Die Tinte enthält ganz gewöhnliche Pigmente, außerdem aber einige Organellen und etwas Erz. Diese Zutaten verstärken die Wirkung der Runen.« Noch einmal wischte er ihr die Schulter mit einem sauberen Tuch und Alkohol ab. »Ich reibe dir noch etwas Organellensalbe auf den Rücken, damit die Haut besser abheilt.«
»Können wir die Organellen überhaupt noch benutzen, nachdem wir nun wissen, wozu sie imstande sind?« Als er behutsam die kühle Salbe auftrug, zuckte sie leicht zusammen.
»Sie können uns nur besser machen«, erwiderte er. »In deinem Fall werden sie wohl mit der Macht der Runen zusammenarbeiten und sie verstärken, auch wenn ich das nicht beweisen kann. Es ist nur eine Theorie.«
Sie war durchaus bereit, seine Theorie zu akzeptieren. Außerdem konnten ihr ein paar Organellen mehr oder weniger nichts anhaben, denn sie hatte sie sowieso schon im ganzen Körper.
Wie um auf ihre stumme Frage zu antworten, lief ein eigenartiges, warmes Kribbeln durch ihren Körper, als tanzte das Blut in ihren Adern. Eine Wärme, als wäre sie in eine heiße Badewanne gestiegen, umfing sie. So hatte sie sich noch nie gefühlt. Es war, als würden alle Teile und Stücke in ihr umsortiert und zu einer neuen Ordnung zusammengesetzt – zu der richtigen Ordnung.
»Das ist nun wirklich unglaublich!«, rief Griffin.
»Was denn?« Sie hielt das Vorderteil ihres Kleids hoch und sprang auf. »Warum fühle ich mich so seltsam?«
Staunend reichte Griffin ihr einen Spiegel. »Schau nur.«
Finley betrachtete sich und keuchte.
Sie hatte jetzt zwei schwarze Strähnen, eine auf jeder Seite, die symmetrisch von der Mitte des Kopfes herunterliefen und im Knoten auf dem Hinterkopf verschwanden.
Sie ließ den Spiegel sinken und starrte Griffin an, der sie triumphierend angrinste.
»Anscheinend wirken die Runen bereits.«
In der folgenden Nacht fand Finley keinen Schlaf. Die Runen auf dem Rücken kribbelten immer noch, wenngleich nicht mehr so stark wie vorher. Ihre Haut war etwas wund, als hätte ihr jemand allzu kräftig den Rücken abgerubbelt. Die schwarzen Strähnen hatten sich nicht verändert, und ihr Blut summte. Inzwischen fühlte sie sich allerdings eher energiegeladen denn ängstlich.
Sie hockte auf dem Geländer des kleinen Balkons vor ihrem Zimmer und balancierte geschickt wie ein Vogel auf einer Fläche, höchstens so breit wie eine Hand. Früher hätte sie Angst gehabt, sich in eine so unsichere Position zu begeben, aber jetzt … jetzt war sie sicher, dass sie nicht stürzen würde, und wenn doch, dann würde sie sich mühelos abfangen.
Sie war nicht so dumm zu glauben, Griffins Tätowierungen hätten sie schlagartig in Ordnung gebracht, aber sie hatten auf jeden Fall etwas bewirkt. Vielleicht war sie jetzt offener dafür, ihre beiden Seiten zusammenzubringen, den Prozess zu vollenden. Danach sehnte sie sich, und zugleich hatte sie Angst davor.
Würde schließlich
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