Das Maedchen mit dem Stahlkorsett
und wie sie seiner versteinerten Miene entnahm, beruhte die Zurückhaltung auf Gegenseitigkeit. »Hallo, Sam. Tut mir leid, dass ich gestern so einfach über dich weggesprungen bin.«
»Du bist schnell«, räumte er widerwillig ein. Er nahm das Tablett mit dem Frühstück und stellte es ihr auf den Schoß. »Ich habe den Diener aufgefangen, den du geworfen hast, und beim nächsten Mal fange ich dich.«
Es klang nicht wie eine Drohung, doch Finley begriff sehr ge nau, dass er sie dann wie eine lästige Fliege zerquetschen wür de. »Es wird kein nächstes Mal geben«, versprach sie ihm heiser.
Der Muskelprotz musste tatsächlich grinsen. Er hatte große weiße Zähne und hätte sogar ganz gut ausgesehen, wenn er nicht so verdammt beängstigend gewesen wäre. »Gut.« Er wandte sich an Emily. »Wir sollten gehen, Griff will mit uns sprechen.«
»Griff?« Finley, die gerade von ihrem Toast hatte abbeißen wollen, hielt inne. Es hatte geklungen, als sei dieser Griff der Anführer, und sie wusste ganz genau, wer er war. Der reiche Knabe.
Emily nickte. »Ja, dies ist sein Haus. Er möchte dich unten in der Bibliothek sprechen, wenn du gefrühstückt hast. Drück einfach auf den Knopf für das Zimmermädchen, dann kommt jemand, der dir beim Ankleiden hilft.«
Er wollte sie sehen. Auf einmal hatte Finley allen Appetit verloren. Da man so bald schon über ihr weiteres Schicksal entscheiden würde, hatte sie keine Lust mehr auf das Essen.
Zu ihrer Überraschung drückte Emily ihr die Hand. »Mach dir keine Sorgen, Mädchen. Es wird schon alles gut werden. Und jetzt iss etwas, du musst ein bisschen Fleisch auf die Knochen bekommen.«
Finleys Augen brannten. Emily hatte genauso geklungen wie ihre Mutter. Oh, wie sie wünschte, ihre Mutter wäre bei ihr! »Danke«, sagte sie mit belegter Stimme.
Emily drückte noch einmal zu, dann nickte sie und sah ihr tief in die Augen. »Ich meine es ernst. Du musst dir keine Sorgen machen.«
Finley nickte und wagte nicht, etwas zu erwidern, denn sonst wäre sie in Tränen ausgebrochen – und sie hatte sich vor diesen Leuten schon genügend zur Närrin gemacht. Sie hielt durch, bis die beiden gegangen waren und die Tür hinter sich geschlossen hatten, dann kullerte ihr eine Träne über die Wange.
Sie hatte ihren Dienstherrn angegriffen und wusste nicht, wohin. Sie würde nie mehr in einer anständigen Familie eine Anstellung finden, wenn das bekannt wurde. Also musste sie sich eine andere Arbeit suchen, der sie ohne Empfehlungsschreiben nachgehen konnte, und hoffen, dass sich der Tratsch über ihre Entgleisung nicht allzu sehr ausbreitete. Außerdem wurde sie entweder verrückt, oder sie war von einem Dämon besessen.
Weshalb also sollte sie sich Sorgen machen?
Die Ziegelwand erbebte unter Sams linkem Haken.
Unter dem Aufprall der rechten Faust zerkrümelte sie.
Ziegelsteine lösten sich. Diejenigen, die nicht zu Staub zerfallen waren, sammelten sich vor seinen Füßen zu einem Haufen. Er hustete und stolperte mit tränenden Augen zurück. »Verdammt nochmal!«
Er befand sich im Ballsaal von Greythorne House. Seit dem Tod von Griffs Eltern hatten sie den großen Raum nicht mehr zur Unterhaltung, sondern als Trainingshalle benutzt.
In den letzten zwei Monaten hatte er hier mehr Zeit verbracht als früher – seit Emily ihm gesagt hatte, er könne wieder mit dem Training beginnen. Nun ja, vielleicht schon eine Weile vorher. Emily wusste auch nicht alles, selbst wenn man manchmal einen anderen Eindruck bekommen konnte.
Als sich die Staubwolke gelegt hatte und er wieder etwas sehen konnte, hielt Sam die Unterarme vor sich, um sie genauer zu betrachten. Einen erkennbaren Unterschied gab es nicht. Sie waren gleich groß und besaßen eine vergleichbare Muskulatur. Wenn er die Finger spannte, spielten die Sehnen unter der Haut.
Dennoch waren die beiden Körperteile nicht gleich. Manchmal glaubte er, im rechten Arm ein leises Quietschen oder Knirschen zu hören, auch wenn er wusste, wie unsinnig das war.
Vermutlich hätte er sich besser gefühlt, wenn das verdammte Ding tatsächlich gequietscht hätte, denn dann hätte es sich vom linken Arm unterschieden, und er hätte wenigstens einen Grund gehabt, es nicht zu mögen. Es zu hassen. Emily hatte ihm das Leben gerettet und ihn in eine Art Monster verwandelt. Deshalb war er ihr fast so böse, wie er ihr für sein Überleben dankbar war.
Genau wie Griff war er schon von Geburt an kein völlig normales Kind gewesen. Sie waren
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