Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
Lippen noch betont wurde. Ihr seidenes Kleid war mit glitzernden Juwelen bestickt. Sie musste eine hochrangige Persönlichkeit sein. Madeleine bemerkte, dass auch die anderen Menschen im Hof zu ihr schauten.
Eine der Kammerzofen versuchte, mit leiser Stimme auf das Mädchen einzureden. »Nein, ich will nicht!«, schrie es erneut.
»Margot!«, ertönte es in diesem Moment schneidend wie ein Peitschenknall. Es war die Stimme Catherine de Medicis, die, umringt von mehreren Höflingen und zweien ihrer Zwerge, vor ihrer Sänfte stand. Das junge Mädchen wandte verunsichert den Kopf zu ihr.
Es war vermutlich kein guter Zeitpunkt, um sich mit der Königinmutter anzulegen, dachte Madeleine. Sie erriet, dass es sich bei dem jungen Mädchen um die jüngste Tochter der Medici, Prinzessin Margot, handeln musste.
Doch diese zögerte noch immer. »Ich will nicht in der Sänfte reisen!«, sagte sie noch einmal aufgebracht.
In diesem Moment tauchte zwischen den Menschen die Gestalt eines jungen Mannes auf. Sein Gesicht mit der etwas zu großen Nase und der schmalen Oberlippe wies eine gewisse Ähnlichkeit mit dem der Medici auf, doch es war vor allem seine prächtige aufgeputzte Kleidung und die Art, wie die Leute respektvoll mit einer Verbeugung vor ihm zur Seite wichen, die Madeleine augenblicklich verrieten, dass es sich bei ihm um keinen Geringeren als den jungen König Charles handeln musste. Er ging mit zwei Schritten auf seine Schwester zu und versetzte dieser eine schallende Ohrfeige. Das knallende Geräusch hallte in einer gespenstischen Stille auf dem Hof wider, und man konnte sehen, wie sich auf der Wange der Prinzessin ein roter Abdruck abzeichnete.
Margot war zusammengezuckt, hatte jedoch keinen Laut hervorgestoßen. Tränen rannen über ihr Gesicht, während ein hasserfüllter Ausdruck in ihren Augen aufblitzte.
»In die Sänfte, los!«, befahl Charles barsch.
Wortlos schritt Margot mit hocherhobenem Kopf an ihm vorbei und ging an der Seite ihrer Kammerfrau zu ihrem Gefährt, das nicht weit entfernt von Madeleine stand. Der Blick der Prinzessin blieb an ihrem verschleierten Gesicht hängen. Margot wandte den Kopf zu ihrer Kammerfrau. »Warum ist sie verhüllt?«, fragte sie.
Madeleine erstarrte, denn sie merkte, dass die Menschen auf dem Hof zu ihr schauten.
In diesem Moment spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter. »Ein ansteckender Ausschlag, Prinzessin«, ließ sich eine tiefe Stimme neben ihr vernehmen. Wie aus dem Nichts war Lebrun plötzlich neben ihr aufgetaucht.
Er verbeugte sich höflich vor Margot, und Madeleine tat es ihm nach.
»Ein Ausschlag?« Die Prinzessin zog mit angewiderter Miene die Augenbrauen hoch. »Dann sollte man ihr nicht erlauben, mit uns zu reisen«, sagte sie, während sie sich anschickte, in die Sänfte zu steigen.
Madeleine bemerkte erleichtert, dass sich auch die anderen Menschen wieder abwandten, und wollte ebenfalls einsteigen, doch dann erschrak sie zutiefst. Nicht weit entfernt, neben einem der Pferde in ihrem prächtigen Geschirr, stand ein Mann, der noch immer zu ihr herüberstarrte. Seine schrägen Augen schienen sie zu durchbohren, und Madeleine spürte, wie ihre Knie weich wurden und sich ihr ganzer Körper vor Angst verkrampfte – es war der Herzog d’Aumale! Sie hatte plötzlich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Konnte er etwa durch ihren Schleier hindurch erkennen, wer sie war?
Dann bemerkte sie, dass Aumales Blick voller Kälte zu Lebrun gewandert war. Einem Klingenkreuzen gleich trafen sich die Augen der beiden Männer.
Sie spürte, wie sich der Druck der Hand auf ihrer Schulter löste. »Steig ein«, befahl Lebrun ruhig und mit leiser Stimme. Wortlos kam Madeleine seiner Aufforderung nach.
Als sie sich im Schutz der Vorhänge zurücksinken ließ, merkte sie, dass sie noch immer am ganzen Leib zitterte.
Sie nahm wahr, wie sich der Zug in Bewegung setzte.
Es war ein überraschend sympathischer Zug an Lebrun, dass er Aumale so feindselig begegnet war, musste sie zugeben.
Erst nach einiger Zeit wagte sie, nach draußen zu sehen. Die Schweizer, die ihre Lanzen gezückt hatten, umgaben den Tross in einer undurchdringlichen Schutzmauer, die sie nicht einmal ihre Umgebung erkennen ließ. Nur die Wipfel der Bäume verrieten, dass sie ein großes Waldgebiet durchquerten.
Der Zug kam sehr viel langsamer und schleppender voran als auf seiner Reise von Montceaux. Von weiter außen, hinter den Schweizern, waren immer wieder Stimmengewirr und Kampfrufe zu
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