Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
geleiten«, antwortete er und sah sie an.
Etwas in seinem Blick verunsicherte sie. Noch immer hatte sie nicht ganz begriffen, welche Rolle er am Hof wirklich spielte, doch auch ohne diese Worte spürte sie die stille Macht und ungeheure Autorität, die ihn umgaben. Es war ganz sicher nicht ratsam, ihn als Feind zu haben.
»Nach Paris?«
Er nickte. »Angesichts der bedrohlichen Lage hat die Königin mutter sich entschlossen, Meaux bei Morgengrauen zu verlassen und die Reise nach Paris zu wagen … Es ist ihr ausdrücklicher Wunsch, dass du in ihrem persönlichen Gefolge mitreist«, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu. »Ihre Majestät ist sich sicher, dass du im Ernstfall einen Anschlag oder Angriff vorhersehen wirst und deine Anwesenheit daher eine zusätzliche Sicherheit verspricht«, erklärte er.
Einen Augenblick lang war sich Madeleine nicht sicher, ob sie sich verhört hatte. »Aber Ihre Majestät irrt sich – das kann ich nicht«, sagte sie entsetzt.
Ein leichtes Lächeln glitt über Lebruns Gesicht, das ihr das Gefühl gab, in eine Falle geraten zu sein. »Du hast den Einsturz der Brücke vorhergesehen und den Anschlag auf Coligny. Und, wie ich hörte, außerdem auch noch den Unfall einer der Klosterschülerinnen durch deine ungewöhnlichen Eingebungen erahnt, nicht wahr? Ich denke doch, dass du das kannst!«
Sie erstarrte. Selbst davon wusste er? Es machte ihr Angst, was er alles über sie in Erfahrung gebracht hatte. Wie konnte er über das Unglück von Françoise Bescheid wissen? Die Oberin, erinnerte sie sich dann. Sie fühlte eine leichte Übelkeit in sich aufsteigen, denn ihr wurde mit einem Mal klar, wie sehr sie Lebrun durch sein Wissen ausgeliefert war. Bemüht, sich nichts von ihrer Furcht anmerken zu lassen, hob sie das Kinn.
»Trotzdem täuscht sich Ihre Majestät. Ich kann es nicht steuern, diese Dinge zu sehen. Es passiert einfach«, erklärte sie tonlos.
»Was auch heißt, dass du nicht wissen kannst, ob du nicht wieder eine Eingebung hättest, wenn etwas passieren würde«, erwiderte Lebrun ruhig.
Seine Worte entbehrten nicht einer gewissen Logik, musste Madeleine zugeben, doch wie würde man reagieren, wenn ein Un glück geschah und sie nichts sah? »Rechnet man damit, dass die Hugenotten den Zug wirklich angreifen werden?«, fragte sie.
Er zuckte die Achseln. »Wenn sie klug sind, werden sie es unterlassen. Es stehen mehrere Tausend Schweizer bereit, um ihren Angriff abzuwehren!«, erwiderte er und wandte sich zum Gehen. »Die Zofe wird dich zur dritten Morgenstunde wecken«, sagte er noch, bevor er wieder verschwand.
Madeleine blickte ihm wie versteinert hinterher.
In der Nacht gelang es ihr kaum, die Augen zu schließen. Ruhelos wälzte sie sich hin und her und lauschte auf den Lärm im Hof, der nicht abreißen wollte. Die schweren Schritte der Schweizer vermischten sich mit dem Gemurmel von Stimmen, den rollenden Rädern von Karren und Wagen und dem Hufschlag von Pferden.
Als sie bei Morgengrauen von der Wache nach draußen geleitet wurde, sah sie, dass die Schweizer Garden aufgereiht um das Spalier der königlichen Leibgarden standen, die sie wie ein zusätzlicher schützender Festungswall umgaben. Im Inneren war genügend Raum gelassen worden, dass die königliche Familie, Höflinge und Reiter sich zu einem Zug formieren konnten.
Wie schon zwei Tage zuvor dirigierte die Wache Madeleine zielstrebig zwischen den Menschen hindurch zu einer Sänfte, die sich genau hinter der der Königinmutter befand.
Sie hatten das Gefährt fast erreicht, als unvermittelt eine laute helle Stimme über den Hof tönte. »Nein! Ich will nicht!«
Etwas weiter vorn, dort, wo sich der Haupteingang des Schlosses befand, war ein junges Mädchen aus der Tür getreten. Mehrere Leibgarden und Kammerfrauen begleiteten sie, doch sie war trotzig auf dem Treppenabsatz stehen geblieben. »Ich will nicht! Ich will nicht nach Paris, und schon gar nicht steige ich in so eine dumme Sänfte!«, schrie sie. Aufgebracht verschränkte sie die Arme vor der Brust. Die Leibgarden und Kammerfrauen blieben stehen, unschlüssig, was sie tun sollten.
Madeleine schaute fasziniert zu ihr hinüber. Selbst durch den dicht gewebten Stoff ihres Schleiers konnte sie erkennen, dass das Mädchen, das ungefähr vierzehn Jahre alt sein musste, von ungewöhnlicher Schönheit war. Ihr ebenmäßiges Gesicht, das wie gemeißelt wirkte, war von einer zarten marmornen Blässe, die von ihren glänzenden dunklen Haaren und den roten
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