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Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Titel: Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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ohne mein Dazutun«, versuchte sie zu erklären.
    »Du glaubst, dass du das nicht kannst«, erwiderte die Medici, unbeeindruckt von ihrem Widerspruch. »Doch vielleicht bist du nur deshalb nicht in der Lage, deine Gabe einzusetzen, weil du sie so lange verleugnet hast und nicht annehmen willst. Deshalb kommt sie in dieser Willkür und wie ein Sturm zu dir«, sagte sie. Ihre Finger, an denen mehrere Ringe mit Juwelen glitzerten, legten sich auf Madeleines Hand. »Du musst lernen, mit deiner Fähigkeit umzugehen und sie als ein Geschenk Gottes anzunehmen, sonst wird sich diese Gabe gegen dich kehren«, setzte sie mit Nachdruck hinzu. Die Königinmutter schwieg einen Moment. »Ich wünschte, ich hätte die Gabe des zweiten Gesichts!«, sagte sie dann. Sie hatte sich aus ihrem Lehnstuhl erhoben und war einige Schritte durch den Raum gewandert. Nur das Rascheln ihres steifen Rocks war zu hören, während ihre Augen in die Ferne glitten, bevor sie sich wieder Madeleine zuwandte. »Ich selbst habe nie mehr als einige Träume gehabt, die mir zwar nur vage etwas über die Zukunft mitgeteilt haben, mich aber schon sehr jung haben begreifen lassen, dass es mehr zwischen Himmel und Erde gibt als nur das, was wir in der Lage sind, mit bloßen Augen zu sehen. Hast du dich schon einmal mit der Kabbala oder der Astrologie beschäftigt?«
    »Nein!« Madeleine schüttelte irritiert den Kopf und fragte sich dabei, ob der Medici eigentlich klar war, aus welchen Verhältnissen sie stammte. Der Stand, dem Madeleine angehörte, war so einfach, dass es schon überraschte, dass sie überhaupt lesen oder schreiben konnte. Wäre ihr Leben in gewöhnlichen Bahnen verlaufen, hätte sie, so wie einst ihre Mutter, versucht, in einem Haushalt eine Stellung zu bekommen, oder sie hätte vielleicht mit etwas Glück einen Handwerker oder Bauern geheiratet. Sich mit Wissen und erst recht mit okkulten Dingen zu beschäftigen, noch dazu als Frau, hätte dagegen als widernatürlich gegolten und schnell gefährlichen Verdacht erregt.
    Die Königinmutter nickte nachdenklich und schaute sie aus ihren ein wenig hervorstehenden Augen offen an. »Das dachte ich mir. Ich würde dich gerne mit jemandem bekannt machen, der dir vielleicht helfen kann, etwas mehr über dich zu erfahren. Er hat mir in meinem Leben schon oft mit seinem Rat zur Seite gestanden und den richtigen Weg gezeigt«, sagte sie.

72
    S ie liefen durch lange verwinkelte Gänge. Ein Diener ging ihnen mit einem Leuchter voraus, und Fôlle watschelte mit kleinen schnellen Schritten neben der Königinmutter her. Es kam Madeleine seltsam unwirklich, wie ein Traum vor, dass sie mit der mächtigsten Frau Frankreichs und deren Zwergin durch die geheimen Flure des Louvre lief.
    »Gehen wir zu Monsieur Rrrrrrr …?«, ertönte es von weiter unten.
    »Ja, Fôlle«, sagte die Medici.
    »Uhu, du wirst dich vor ihm fürchten!«, prophezeite die Zwergin zu Madeleine gewandt und vollzog dabei zwei Sprünge. »Er kann hexen, weißt du?« Sie kicherte erneut.
    »Rede keinen Unsinn, Fôlle«, sagte die Medici kopfschüttelnd.
    »Ich sage nur, was alle Leute behaupten.« Die Zwergin deutete auf Madeleine. »Und sie kennt bestimmt all die finsteren Geschichten über die bösen Zauberer und Hexer, nicht wahr? Hast du Angst?« Ihr Ton triefte vor Spott, und ihre dunklen Augen glänzten in der Dunkelheit.
    Madeleine warf ihr einen kühlen Blick zu. Dabei hatte die Zwergin nicht ganz unrecht. Auch wenn sie es sich niemals hätte anmerken lassen, sie fühlte sich unbehaglich, während sie hier durch die Gänge lief, und fragte sich, zu wem die Königinmutter sie wohl bringen würde.
    Die Medici war vor einer Tür stehen geblieben. »Du wartest hier«, sagte sie zu Fôlle. Ihr Tonfall duldete keinen Widerspruch, und die Zwergin verzog schmollend den Mund. Etwas an ihrer Haltung, wie sie sich mit über der Brust verschränkten Armen gegen die Wand lehnte, erinnerte Madeleine an Rémi. Die beiden hätten sich bestimmt verstanden, schoss es ihr durch den Kopf.
    Dann folgte sie der Medici durch die Tür und weiter eine schmale Stiege hoch, die die Königinmutter mit erstaunlicher Wendigkeit emporstieg.
    Sie öffnete eine weitere Tür, und sie standen plötzlich in einem großen Gemach. Madeleine blickte sich beklommen um. Niemals zuvor hatte sie einen solchen Raum gesehen – das Zimmer war auf der einen Seite mit unheimlichen, düsteren Stoffbahnen verdunkelt, auf denen mit Kreide seltsame Schriftzeichen und Symbole

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