Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
Freiheit zurück, aber in den Nächten quälten sie noch immer Albträume, in denen ihr wieder und wieder der Herzog d’Aumale begegnete.
Kurz nach ihrer Ankunft im Louvre hatte sie lange Gespräche mit Lebrun führen müssen, der, wie sie inzwischen begriffen hatte, der Chef des Geheimdienstes war. Er hatte sie über jedes noch so unbedeutende Detail ihres Aufenthalts in La Bonnée und Châtillon ausgefragt. Madeleine hatte versucht, so wenig wie möglich zu lügen und weitestgehend bei der Wahrheit zu bleiben. Es war dennoch schwierig gewesen, Lebruns wiederholte Fragen zu beantworten, die jeder noch so kleinen Unstimmigkeit auf den Grund kamen. Es überraschte sie, wie viel der Geheimdienstchef über die einzelnen Hugenotten wusste. Einmal hatte er sie mitten im Gespräch mit einem durchdringenden Blick gemustert und unerwartet gefragt, an wen sie gerade denke.
»An niemand!«, hatte sie geantwortet, doch das war gelogen. Ihre Gedanken weilten wie so oft bei Nicolas de Vardes. Unentwegt taten sie das. Selbst der körperliche Schmerz, den sie erlebt hatte, verblasste angesichts der Sehnsucht, die sie nach ihm verspürte. Sie wollte hier weg, zurück zu ihm, um ihm alles zu erklären, doch ihr war klar, dass sie nicht einfach nach draußen spazieren konnte. Der Louvre war bewacht, und es herrschte Krieg. Sie musste abwarten und in dieser Zeit alles dafür tun, dass ihr Lebrun und die Medici vertrauten.
»Lass uns ein bisschen über dich reden!«, riss sie die Stimme der Königinmutter unvermittelt aus ihren Gedanken. Die Medici, die sich zu ihr gewandt hatte, ließ sich in einem gepolsterten Lehn stuhl nieder und deutete auf einen Schemel an ihrer Seite.
Gehorsam nahm Madeleine darauf Platz und versuchte dabei, die stechenden Augen von Fôlle zu ignorieren, die sich auf ein Kissen neben der Königinmutter hatte fallen lassen.
Sie befanden sich in einem elegant eingerichteten Raum, der zu den Privatgemächern der Königinmutter im Louvre gehörte. Trotz des Prunks, mit dem er ausgestattet war, strahlte er eine angenehme Behaglichkeit aus. Mehrere Gemälde hingen an der Wand – unter ihnen auch das Porträt eines Papstes, dessen Augen und Lippenpartie eine entfernte Ähnlichkeit mit der der Königinmutter aufwiesen, und zwei weitere Bilder in hellen, lichten Farben, die Florenz zeigten.
Sie fragte sich, was die Königinmutter genau von ihr erwartete. Angesichts ihrer Forderung, dass sie in ihrem Gefolge hatte mitreisen sollen, war zu vermuten, dass sie sich irgendwelche Weissagungen, ähnlich die ihrer Astrologen und Propheten, über die Zukunft von ihr erhoffte. Doch das konnte sie nicht! Dabei wünschte Madeleine inzwischen manchmal selbst, es wäre anders. Es erfüllte sie mit Bitterkeit, dass sie alles Schreckliche, das ihr selbst geschehen war, nicht einmal geahnt hatte – weder den Tod ihrer Mutter noch die Gefahren ihrer Flucht oder die Entführung durch die Guise. Warum hatte sie sehen können, dass man Coligny umbringen und dass Nicolas de Vardes durch den Pfeil eines Bogenschützen getroffen werden würde, während sie selbst in Châtillon auf dem Turm wie blind in die Hände ihrer Entführer getappt war? Nichts, was sie sah, hatte jemals etwas mit ihr persönlich oder ihrem eigenen Leben zu tun gehabt, wurde ihr bewusst. Warum wohl?
»Erzähl mir, seit wann weißt du von deiner Gabe?«, fragte die Medici.
In ihren Augen lag eine flackernde Neugier, und Madeleine spürte, wie sie sich unwillkürlich versteifte. Sie wollte nicht darüber sprechen, doch sie begriff, dass sie keine Wahl hatte. Sie war auf die Gunst dieser Frau angewiesen.
»Es ist damals am Fluss, als die Brücke einstürzte, das erste Mal geschehen«, antwortete sie schließlich zögernd.
»Hast du es mir gegenüber geleugnet, weil du Angst hattest?«
»Ja. Ich verstand damals selbst nicht, was mit mir geschah«, gab Madeleine zu.
»Hast du es denn niemandem erzählt?«, fragte die Medici ungläubig.
Madeleine dachte an ihre Mutter, doch sie schüttelte den Kopf. »Nein!«
»Du musst dich sehr einsam gefühlt haben«, sagte die Königinmutter sinnend. Eine unerwartete Wärme schwang in ihrer Stimme. »Siehst du …«, fuhr sie dann sogleich fort, »deine Gabe, diese Ereignisse vorherzusehen, könnte für uns alle von großer Bedeutung sein.«
Madeleine blickte sie an. Ihr Herz pochte. »Ihr täuscht Euch in meinen Fähigkeiten. Ich kann das, was ich sehe, nicht steuern oder bewusst herbeirufen – es geschieht willkürlich,
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