Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
Herrschaft von Charles oder sein Leben oder auch für das von Henri, seinem Bruder, darstellen könnte!«
Madeleine nickte, während sie sich innerlich zu sammeln versuchte. Was sollte sie nur tun? Sie war sich sicher, dass sie nichts sehen würde. Sollte sie stattdessen etwas erfinden? Sie wandte ihr Gesicht wieder der Flamme zu und spürte die Wärme auf ihrem Gesicht.
Ruggieri legte ihr die Hand auf die Schulter. »Versucht, Euch auf die Flamme zu konzentrieren.« Seine Stimme hatte einen sanften, wiegenden Tonfall angenommen. »So wie ich es Euch gezeigt habe und Ihr es schon oft geübt habt. Vergesst alles um Euch herum!«
Sie tat, was er ihr aufgetragen hatte. Es fiel ihr schwerer als gewöhnlich – der Druck und die Anspannung, die sie durch die Gegenwart der Medici und Lebruns fühlte, machten es ihr anfangs unmöglich, sich von ihren Gedanken und Gefühlen zu lösen. Doch schließlich merkte sie, wie ihr Atem ruhiger wurde und es ihr gelang, ihre Aufmerksamkeit allein auf die leicht züngelnde Flamme zu lenken.
»Seht in den Spiegel!« , drang die Stimme von Ruggieri zu ihr.
Madeleine richtete ihre Augen hinter die Kerze auf den Spiegel, in dem sich das Bild der Flamme doppelt reflektierte und gleichzeitig in die Breite gezogen wurde. Sie spürte einen leichten Schwindel, während ihr Blick tiefer in das tanzende Orange hineingezogen wurde.
»Lasst Euren Blick weitergehen, tiefer in den Spiegel hinein, bis mitten in die Flammen. Ihr steht vor den Toren der Stadt, um Euch herum kämpfen Männer …«
Sie versuchte, der Aufforderung nachzukommen. Das Orange schien plötzlich kräftiger und glühender zu werden, und sie hatte tatsächlich das Gefühl, sich mitten in ihm zu befinden, doch sonst erblickte sie nichts.
»Was seht Ihr?«
»Nichts, nur die Flammen«, murmelte sie seltsam hohl und fremd, als würde nicht sie diese Worte sprechen.
»Ihr müsst weitergehen, durch sie hindurch, bis zu dem Kampf, der dahinter stattfindet« , drängte sie Ruggieris Stimme weiter. In seinem sanften Unterton schwang mit einem Mal etwas unerwartet Forderndes.
Aber Madeleine konnte nicht – sie sah nichts außer den Flammen.
»Geht. Löst Euch von den Flammen, wie Ihr Euch vorher von allem anderen gelöst habt. Hört Ihr die Schüsse und das Klirren der Degen? Männer kämpfen. Der Geruch von Angst und Schweiß liegt in der Luft …«
Sie konnte nichts hören.
»Geht!« Diesmal war es ein Befehl.
Sie versuchte erneut, seiner Anordnung Folge zu leisten, doch es wollte ihr einfach nicht gelingen. Ihre Konzentration brach ab, doch Madeleine ließ sich nichts anmerken, sondern schaute weiter auf die Kerze und den Spiegel.
»Was seht Ihr?« , fragte Ruggieri erneut.
»Nichts!«, sagte sie leise.
»Geht weiter. Durch die Flammen hindurch!« , forderte er sie erneut auf.
»Es geht nicht! Ich sehe wirklich nichts«, wiederholte sie. Sie öffnete entschlossen die Augen. »Es tut mir leid«, murmelte sie. »Ich habe es wirklich versucht.«
Ruggieri sah sie aus seinen kohlrabenschwarzen Augen durchdringend an, dann wandte er sich zur Königinmutter. »Vielleicht sieht sie nichts, weil es nichts gibt, das von Belang ist. Ich denke, Ihr solltet unbesorgt sein«, sagte er.
Die Medici nickte. Sie schenkte Madeleine einen Blick, in dem sich trotzdem tiefe Enttäuschung zeigte – und Verärgerung.
Madeleine begriff, dass sie in den Augen der Königinmutter versagt hatte. Etwas in ihr erinnerte sich plötzlich an ihre erste Begegnung mit der Medici, damals in Éclaron. Dann bist du anscheinend weniger außergewöhnlich, als ich gedacht habe , hatte sie damals gesagt, und dabei hatte sich genau die gleiche leise Verachtung in ihrem Gesicht gespiegelt wie jetzt. Betroffen und voller Angst verließ Madeleine das Gemach.
78
E in kalter regnerischer Novemberwind schnitt Vardes am Nach mittag ins Gesicht, doch er spürte ihn nicht. Die ersten Schüsse der feindlichen Artillerie waren bereits gefallen, und er schaute auf die nicht enden wollenden Reihen der gegnerischen Truppen, die unaufhaltsam näher kamen. Er fragte sich, ob ihr Plan wirklich aufgehen konnte. Dann sah er, wie Coligny ein Zeichen gab und ihre eigenen Schützen zurückzuschießen begannen.
Nur wenige Augenblicke später preschten sie mit ihrer Kavallerie vorwärts. Jeder Gedanke und jedes Gefühl schalteten sich in ihm aus. Es war die Veränderung, die in jedem Kampf mit ihm vor sich ging. Vardes fühlte, wie sich sein Puls beschleunigte, das Blut in
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