Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
beeilte Madeleine sich zu versichern. »Doch Ihr wisst, dass diese Visionen immer willkürlich kommen und nicht steuerbar sind«, sagte sie von Neuem.
Lebrun trat nach vorn und legte ihr die Hand auf die Schul ter. »Versuch es! Vielleicht kannst du mehr, als du glaubst, und die Übungen, die dir Monsieur Ruggieri gezeigt hat, helfen dir, willentlich mit der Zukunft in Verbindung zu treten!«
Madeleine blickte ihn verwirrt an. Ihr war immer klar gewesen, dass die Königinmutter genauestens über ihre Unterhaltungen und Treffen mit Ruggieri Bescheid wusste, dass der Geheimdienstchef aber ebenso darüber informiert war, hatte sie nicht geahnt. Sie hätte nicht einmal vermutet, dass ein Mann wie er, der von einer kalten Logik und Vernunft durchdrungen zu sein schien, überhaupt an Magie oder übernatürliche Eingebungen glaubte.
Die Königinmutter war währenddessen unruhig einige Schritte durch den Raum gegangen. »Die Situation ist sehr ernst«, erklärte sie dann. »Unsere Verhandlungen mit den Protestanten sind gescheitert. In diesem Moment warten unsere Truppen nur noch auf den letzten Befehl des Königs, um in die Schlacht zu ziehen. Sie werden noch heute vor den Toren von Paris auf die Armee der Hugenotten treffen. Wir sind ihnen zahlenmäßig zwar weit überlegen, aber ich scheue diesen Kampf. Mein Instinkt und mein Gefühl raten mir aus der Tiefe meiner Seele davon ab …« Unruhig rang sie die Hände und wandte ihr blasses Gesicht zu Madeleine. »Etwas in mir fürchtet, dass etwas Schreckliches geschehen könnte! Hilf mir zu sehen, was es sein könnte.« Ein bittender Ausdruck lag mit einem Mal auf ihrem Gesicht.
Ein Anflug von Mitleid regte sich plötzlich in Madeleine. Sie ahnte, dass die Medici gleichermaßen um ihre Herrschaft wie um das Leben ihrer Söhne bangte.
»Ich werde es versuchen, aber ich kann nichts versprechen«, sagte sie schließlich.
Die Medici nickte.
»Ich werde Euch helfen«, sagte Ruggieri zu Madeleine, der bis jetzt geschwiegen hatte und nun aus dem Halbdunkel neben sie getreten war. »Ich habe etwas vorbereitet, das es Euch erleichtern wird, Eure Visionen herbeizurufen!«, sagte der Magier.
Madeleine sah ihn ausdruckslos an. Sie kam sich vor wie eine Marionette, als man sie in den benachbarten Raum führte. Es war ein fensterloser Kabinettsraum, der vollständig mit Stoffbahnen verdunkelt war. In der Mitte des Zimmers befand sich ein runder Tisch, auf dem ein Spiegel aufgestellt war. Davor stand ein Leuchter mit kabbalistischen Symbolen, in dem eine Kerze brannte.
Für einen kurzen Moment zögerte sie. Ihr gesamter Instinkt riet ihr, sich nicht darauf einzulassen und diesen Raum, so schnell es ging, zu verlassen. Die Gespräche, die Auseinandersetzungen, das Erstellen ihres Horoskops – das alles hatte Ruggieri oder vielmehr die Medici längst nicht nur getan, um ihr zu helfen, sondern um sie auf genau diesen Augenblick vorzubereiten. Und obwohl Madeleine das immer unterschwellig bewusst gewesen war, traf es sie doch. Etwas in ihr weigerte sich, in dieser Weise von ihnen benutzt zu werden. Doch dann spürte sie die Blicke der drei auf sich. Ich habe keine Wahl, dachte sie zum zweiten Mal und ging langsam weiter bis zu dem Stuhl, der vor dem Tisch stand.
Sie bemerkte, wie Ruggieri durch den Raum schritt, in dem ein leichter Nebel lag. Im Schein des züngelnden Kerzenlichts hatte seine Gestalt in dem schwarzen Mantel etwas Furchterregendes. Er murmelte leise Worte, während seine Hand einige seltsame Zeichen in der Luft vollführte.
»Was tut Ihr dort?«, fragte sie ihn.
»Ich rufe um Hilfe an! … Habt keine Angst«, fügte er sanft hinzu. »Gott wird Euch leiten.«
Sie erwiderte seinen Blick. »Ich habe keine Angst«, sagte Made leine und merkte, wie sie sich mit einem Mal etwas benommen von dem Nebel im Raum fühlte.
»Gut!« Er lächelte. »Dann setzt Euch.«
Sie kam seiner Aufforderung nach und ließ sich auf dem Stuhl vor dem Spiegel nieder, der das Bild der Flamme seltsam verzerrt reflektierte.
Catherine de Medici und Lebrun standen seitlich neben ihr und beobachteten sie.
Madeleine drehte den Kopf zu der Königinmutter. »Wenn ich etwas sehen sollte – gibt es etwas Bestimmtes, das Ihr am meisten zu wissen begehrt?«, fragte sie.
Die Medici sah sie an. Die ausdruckslose Maske war von ihrem Gesicht gewichen, das stattdessen einen tiefen Ausdruck der Sorge zeigte. Sie hob das Kinn. »Meine Söhne – ich will wissen, ob dieser Krieg eine Gefahr für die
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