Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
schüttelte mit ernster Miene den Kopf. »Nein, wahrscheinlich nicht. Ich wusste, dass etwas Schreckliches geschehen würde, und wollte es einfach verhindern.«
»Dann stimmen die Gerüchte also«, stellte Ambroise Paré fest.
»Die Gerüchte?«
»Ja, damals, als am Flussufer die Brücke eingestürzt ist, erzählte man sich, Ihr hättet die Leute nur deshalb warnen können, weil Ihr eine übersinnliche Wahrnehmung, eine Art hellsichtige Fähigkeit gehabt hättet.«
Madeleine schaute ihn an. Sie musste plötzlich an Ruggieris Worte denken, daran, dass alles im Leben im Zusammenhang stand und man nichts für sich allein betrachten könne. So war es auch mit dem Einsturz der Brücke. Immer wieder schien alles in ihrem Leben auf dieses Ereignis zurückzugehen und damit in Verbindung zu stehen, ohne dass sie sich davon lösen konnte. »Ja, das stimmt«, sagte sie schließlich zu Paré, der sie noch immer anblickte. Sie wollte den Chirurgen, dem sie so viel verdankte, nicht anlügen. »Ich habe damals nicht gewagt, die Wahrheit zu sagen. Ich hatte zu viel Angst, man könnte mich für eine Hexe halten … Wenn ich ehrlich bin, fällt es mir noch immer schwer, darüber zu reden.« Ein schiefes Lächeln glitt über ihr Gesicht.
Paré nickte verständnisvoll. »Wahrscheinlich sind Eure Befürch tungen nicht unberechtigt. Den meisten Menschen wird Eure Fä higkeit wahrscheinlich sehr unheimlich erscheinen«, gab er zu.
»Euch nicht?«, fragte sie überrascht.
Er lächelte. »Wenn Ihr Euch wie ich der Medizin verschrieben habt, dann erlebt Ihr zu oft, dass es Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, die jeder Gesetzmäßigkeit der Natur zu widersprechen scheinen – Menschen, die keine Chance mehr gehabt haben und wie durch ein Wunder genesen, und andere, die jung und stark sind und doch sterben.« Er hob in einer ergebenen Geste die Schultern. »Die Welt und Gott sind oft größer, als wir Menschen es glauben.«
»Und doch haltet Ihr nicht viel von der Astrologie!«
Er hob den Finger. »Ich glaube durchaus daran, Mademoiselle Madeleine, aber ich glaube auch, dass es viele Scharlatane gibt und es Gott durchaus gefällt, seine eigenen Wege zu gehen, ohne uns die vorher immer mitzuteilen … Wenn ich es richtig verstanden habe, könnt Ihr Eure Visionen auch nicht willentlich herbeirufen, oder?«, sagte er, als sie beide plötzlich hinter sich ein Geräusch von der Tür hörten.
Madeleine fuhr herum. Es war niemand zu sehen, doch ihr fiel auf, dass die Tür nicht mehr geschlossen, sondern nur angelehnt war.
»Hattet Ihr die Tür offen gelassen?«
Der Chirurg schüttelte den Kopf. »Nein.«
Madeleine ging nach vorn, um die Wache zu fragen. Doch der Mann stand nicht wie sonst vor ihrem Zimmer, sondern befand sich am Ende des Ganges, wo er sich augenscheinlich die Beine vertrat. Als er sie sah, kam er mit beschleunigten Schritten zurückgelaufen. »Es tut mir leid, aber zu Eurer eigenen Sicherheit solltet Ihr Euer Gemach nicht verlassen.«
Sie hätte nicht sagen können, wie oft sie diesen Satz schon gehört hatte, und schaute ihn kühl an. »Monsieur Paré und ich haben ein Geräusch gehört. Ich glaube, jemand wollte in mein Zimmer.«
»Unmöglich«, widersprach die Wache. »Ich hätte jeden gesehen, der hier im Gang war.«
Madeleine nickte, doch es war ihr nicht entgangen, dass der Mann ihrem Blick ausgewichen war. Ein ungutes Gefühl ergriff sie, und sie verspürte mit einem Mal Angst. Irgendjemand hatte ihr Gespräch mit Ambroise Paré belauscht, doch wer?
80
M argot lief schnell den Gang entlang und schlüpfte durch die alte Seitentür, die verborgen hinter einem Wandteppich lag und die keiner kannte. Auf der anderen Seite schob sie eine lose Wandverkleidung zur Seite und trat in einen leeren Flur des Palastes wieder hinaus. Sie blickte sich vorsichtig um, doch es war niemand zu sehen. Die Prinzessin schlug sich nach rechts und hatte nach wenigen Schritten die Haupthalle des Louvre erreicht. Sie atmete tief durch und strich sich die Haare aus dem Gesicht, die über den steifen Kragen ihres Kleides fielen, bevor sie mit nunmehr gemessenen Schritten weiterlief.
Für einen kurzen Moment überfiel sie ein Anflug von schlechtem Gewissen. Sie kam sich vor, als hätte sie etwas Verbotenes getan, dabei waren es doch die anderen – ihre Mutter und Lebrun –, die Geheimnisse hatten und ständig vor allen etwas zu verbergen suchten, schoss es ihr voller Trotz durch den Kopf. Sie dachte wieder an die junge Frau – Margot
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