Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
hatte sie überlegt, ob sie nicht doch die Flucht wagen sollte. Ihr Blick glitt aus dem Fenster. Wie es hieß, waren die Wege und Straßen wieder passierbar, denn die Blockade von Paris war gebrochen.
Die Schlacht von Saint-Denis lag einige Tage zurück. Zu ihrer großen Erleichterung schien weder dem König noch seinem Bruder etwas geschehen zu sein. Am Tag der Schlacht war sie wie gelähmt vor Angst gewesen, dass einem der beiden etwas zustoßen würde und die Medici sie dafür verantwortlich machen könnte, weil sie es nicht vorhergesehen hatte.
Ihre letzte Begegnung mit der Königinmutter hatte ihr unweigerlich vor Augen geführt, in welcher Gefahr sie sich auch hier ständig befand. Doch die Flucht zu wagen war schwierig. Nicht nur, weil sie bewacht wurde, sondern vor allem, weil sie keine Ahnung hatte, wie die politische Situation außerhalb von Paris zurzeit wirklich war. Sie dachte an Nicolas de Vardes und fragte sich mit bangem Herzen, wie es ihm wohl ging. Hatte er in St. Denis gekämpft? Hätte sie nur ein bisschen mehr über die Schlacht gewusst!
Mit Ungeduld erwartete sie den Besuch von Ambroise Paré. Der Chirurg, der noch immer regelmäßig nach ihr sah, war einer der wenigen Menschen, die stets bereit waren, ihr etwas ungefärbt und ehrlich über die Geschehnisse außerhalb der Palastmauern zu erzählen.
Als er schließlich am Nachmittag bei ihr erschien, berichtete er, dass der König und sein Bruder zwar glücklicherweise unverletzt seien, aber die Schlacht von St. Denis dennoch einen anderen tragischen Verlust zu beklagen hätte. Der vierundsiebzigjährige Oberbefehlshaber der königlichen Armee, Monsieur de Montmorency, der Onkel des Admirals de Coligny, sei gefallen.
»Es war kein schöner Tod. Seine Nieren und ein Teil seines Gesichts wurden zerfetzt. Er ist gestern seinen schweren Verletzungen erlegen«, erzählte ihr Paré mit betrübter Miene. Das Ge sicht des Chirurgen wirkte erschöpft und müde. Madeleine ahnte, dass er in den letzten Tagen kaum eine Stunde Schlaf bekommen hatte. Erneut wurde ihr bewusst, wie unnütz ihr eigenes Leben an diesem Ort war.
»Und es hat wirklich keine der beiden Seiten gesiegt?«, fragte sie erneut ungläubig.
Ambroise Paré wiegte den Kopf. »Nun, die Hugenotten mussten sich zurückziehen und konnten die Blockade um die Stadt herum nicht weiter aufrechterhalten. Insofern ist es schon ein Sieg. Angesichts der beachtlichen Übermacht des Königs allerdings ein ziemlich schmählicher! Coligny und Condé gelang es, sich im Schutze der Nacht und des Regens zurückzuziehen und zu entkommen. Man hätte sie eigentlich daran hindern müssen«, erklärte Paré mit einem Kopfschütteln. Madeleine stellte überrascht fest, dass dabei jedoch ein leichtes Lächeln auf seinem Gesicht lag.
Sie spürte, wie ihr Herz klopfte. »Sie sind entkommen?«
»Ja.«
Eine Welle der Erleichterung durchflutete Madeleine. Das hieß, dass Nicolas wahrscheinlich auch noch am Leben war. Er hielt sich fast immer in der unmittelbaren Nähe von Coligny oder Condé auf. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass ihre Anspannung in den letzten zwei Tagen auch von ihrer Angst um ihn hergerührt hatte.
Der Chirurg hatte nach seiner Tasche gegriffen. »Lasst mich noch einmal einen Blick auf Euren Rücken werfen«, sagte er.
Madeleine nickte und öffnete ihr Kleid.
»Kennt Ihr jemanden, der auf der Seite der Hugenotten gekämpft hat?«, fragte Paré sie mitfühlend, als er wenig später ihre Narben begutachtete, die langsam ihre rosa Färbung zu verlieren begannen, und eine Tinktur auftrug, die bei der weiteren Heilung helfen sollte.
Sie wandte den Kopf zu ihm. Es war ihr unangenehm, dass man ihr die Erleichterung so anmerkte.
»Ich habe einige Zeit bei den Hugenotten verbracht. Sie haben mir Schutz gewährt und mich immer sehr gut behandelt. Von dort bin ich entführt worden …«, erzählte sie.
Der Chirurg hatte die Tinktur zur Seite gestellt und blickte sie an. »Erlaubt Ihr mir eine Frage?« Er bedeckte ihren Rücken behutsam mit dem Stoff ihres Kleides.
»Sicher!«
Er deutete auf ihren Rücken. »Warum hat man Euch das angetan?«
Noch nie hatte er ihr diese Frage gestellt. Sie schwieg. »Ich habe einen Anschlag der Guise auf den Admiral de Coligny verhindert. Eigentlich unabsichtlich – ich wusste nicht, dass es sich um den Hugenottenführer handelt«, sagte sie, während sie ihr Kleid so weit schloss, wie es ihr ohne Zofe möglich war.
»Hätte es etwas geändert?«
Sie
Weitere Kostenlose Bücher