Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
unten sinken und schien nur ungern zu antworten. »Das ist eine lange Geschichte – sie hängt mit meinem älteren Bruder Jacques zusammen«, sagte er zögernd und lehnte sich gegen die Wand. »Meine Familie war streng katholisch, doch Jacques fühlte sich von Beginn an zu dem neuen reformierten Glauben hingezogen. Er ging zu den ersten Gottesdiensten, die es damals in Paris gab …« Nicolas fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Erstaunt bemerkte sie, dass sich sein Gesichtsausdruck ver düstert hatte. »Mein Vater ahnte nichts davon. Er war ein Lehnsmann des Herzog de Guise. Eines Abends wurde er von einem der Offiziere des Herzogs gebeten, mit einigen anderen katholi schen Edelleuten zur Sorbonne zu kommen. Dort hätten sich meh rere Hundert Protestanten zu einem geheimen Gottesdienst versammelt. Man wollte ein Exempel statuieren und sie verhaften lassen. Ich wusste, dass Jacques dort war. Ich bin aus dem Haus gerannt, um ihn zu warnen. Doch ich kam zu spät …« Er blickte Madeleine voller Ohnmacht an. »Es war furchtbar«, erklärte er mit zusammengepressten Lippen. »In den Straßen hatte sich bereits ein aufgebrachter Mob versammelt – aufrechte Katholiken, sogar einige Priester waren darunter. Sie haben sich mit Steinen bewaffnet und sind auf die Protestanten losgegangen.«
Madeleine schauderte unwillkürlich, als sie sich das furchtbare Szenario vorstellte.
»Ich habe noch versucht, meinem Bruder Jacques zu helfen, ihn zu verteidigen, doch ich hatte keine Chance. Er wurde vor meinen Augen erschlagen. Man hat ihm die Haare ausgerissen und seinen Leichnam durch die Straßen geschleift«, schilderte Nicolas. Seine Stimme klang brüchig, und aus seinem Gesicht war alle Farbe gewichen.
»Doch fast noch schlimmer war der Anblick meines Vaters. Er hat uns nicht gesehen, aber ich ihn. Tatenlos stand er zwischen den anderen katholischen Edelleuten am Straßenrand und hat einfach zugesehen«, fuhr er fort. »Ich wurde später von den Leuten der Guise festgenommen. Sie glaubten, ich hätte auch an dem Gottesdienst teilgenommen, und misshandelten mich. Einer hat schließlich einen Dolch genommen und mir ein Kreuz in die Wange geschnitten …«
Madeleine blickte Nicolas entsetzt an.
»Vermutlich hätten sie mich in dieser Nacht umgebracht, aber ein Offizier erkannte mich. Er wusste, dass mein Vater ein Lehnsmann der Guise war, und ließ mich frei. Als ich später im Spiegel die Wunde sah, das Kreuz, mit dem sie mich gezeichnet hatten, habe ich ein Messer genommen und bin darübergefahren. Immer und immer wieder …«
Madeleine spürte, wie sich ihr die Kehle zuschnürte, als sie begriff, auf welche Weise die feinen Querlinien seiner Narbe entstanden waren. Was musste in ihm vorgegangen sein …
»In dieser Nacht habe ich aufgehört, ein Katholik zu sein!«, sagte Nicolas ausdruckslos. Er deutete auf seine Wange. »Das hier ist mir als Erinnerung und Mahnung geblieben!«
Madeleine trat zu ihm und ergriff seine Hand. »Das muss schrecklich für dich gewesen sein. Dein Bruder … es tut mir so leid um ihn«, sagte sie leise. Dann hob sie die Hand und zeichnete mit dem Finger zart die Linien auf seiner Wange nach. »Ich liebe diese Narbe. Vom ersten Moment an habe ich das – genauso wie ich dich liebe, Nicolas.« In seinen Augen sah sie den tiefen Schmerz, der ihn nie verlassen würde. Er zog sie an sich und küsste sie.
Am nächsten Tag setzten sie ihre Reise fort. Je weiter sie Richtung Nordwesten kamen, desto deutlicher zeigte sich der nahende Winter. Kahle Äste, an denen sich nur noch vereinzelt einige gelbbraune Blätter fanden, ragten ihnen vom Wegesrand entgegen, und immer öfter trieb ihnen ein kühler, ungemütlicher Wind ins Gesicht. In den frühen Morgenstunden fror Madeleine selbst unter ihrem warmen Umhang. Doch es störte sie nicht – im Gegenteil. Sie mochte den feuchten, erdigen Geruch, der in der Luft hing, und das Geräusch, wenn das Laub unter den Hufen der Pferde raschelnd in die Luft stob.
Sie durchquerten mehrere Dörfer und erreichten schließlich ein großes Waldgebiet. Auch dort waren sie nicht sicher. Zweimal schon hatten Vagabunden in den Wäldern versucht, sie zu überfallen. Guillaume und Clément hatten sie mithilfe von Nicolas in die Flucht geschlagen, doch Madeleine erinnerte sich noch an den großen Schreck, als eine der verdreckten Gestalten sie am Fuß gegriffen und versucht hatte, sie vom Pferd zu ziehen. Die unterhöhlten Augen in dem ausgemergelten Gesicht, die sie voller
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