Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
Er griff sie an den Armen.
»Madeleine, auch wenn wir hier in La Rochelle sind und die Stadt im Grunde sicher ist, du solltest trotzdem besser nicht alleine unterwegs sein«, sagte er eindringlich.
Sie wich seinem Blick aus. »Darf ich dich etwas fragen? Dieser Verräter, von dem du mir in Châtillon erzählt hast, glaubst du, dass es jemand von den Guise ist?«
Er zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Die Guise oder auch die Medici. Letztendlich spielt es keine Rolle, für wen dieser Verräter arbeitet, sondern allein, was er tut«, erwiderte er mit so finsterer Miene, dass Madeleine bei seinen Worten der Atem stockte.
Nicolas ließ sie los und trat zum Kamin. Einen Augenblick lang schaute er ins Feuer. »Deine Familie stammt doch aus der Pfalz, oder?«
Sie nickte irritiert. »Ja, warum?«
»Ich werde mit einem wichtigen Auftrag verreisen müssen«, erklärte er. »Für längere Zeit – nach Deutschland.«
Madeleine starrte ihn an.
»Ich habe lange überlegt. Es wird nicht ungefährlich sein, aber wenn du hier allein bleibst und wieder eine deiner Visionen hast, ist das Risiko weitaus größer. Ich möchte, dass du mich begleitest!«
Sprachlos blickte sie ihn an. Das Angebot, hier allem entfliehen zu können, erschien ihr zu verheißungsvoll, um wahr zu sein.
111
D ie aufgehende Sonne brach nur zögernd durch die graue Wol kendecke durch. Um sie herum war die Landschaft noch immer in einen feuchten dunstigen Novembernebel gehüllt, der nur sche menhaft die Umrisse von Wald und Feldern sichtbar werden ließ. Madeleine war dankbar für den warmen Umhang, der hinab bis zu ihren Waden reichte. Der Kragen und Aufschlag war mit einem schmalen Pelz besetzt, und eine verzierte Schnalle verschloss ihn oben am Hals – es war das Kleidungsstück einer wohlhabenden Frau. Ihr Blick glitt unwillkürlich zu den drei Männern, die in ihren bunten Kniebundhosen, den gefütterten Umhängen, unter denen sie ihre Waffen verbargen, und Hüten nicht weniger fremd wirkten. Sie reisten als Kaufleute, als Tuchhändler – ein Ehepaar mit seinem Gehilfen und Diener, die auf dem Weg nach Deutschland waren. In dem Gepäck ihrer Lastpferde befanden sich sogar die Muster von Stoffproben.
Clément und Guillaume sollten sie zu ihrer Sicherheit bis zur deutschen Grenze begleiten, von dort würden die beiden Männer sich weiter in Richtung Osten begeben, um zu den Truppen des niederländischen Prinzen Guillaume d’Orange zu stoßen.
Noch vor Morgengrauen waren sie in aller Stille und Heimlichkeit aus La Rochelle aufgebrochen. Nur der Admiral war über ihre Abreise informiert. Anfangs hatte er sich dagegen ausgesprochen, dass Madeleine Nicolas begleitete, doch die Tatsache, dass die Männer zusammen mit einer Frau weniger verdächtig wirken würden und sie darüber hinaus auch noch Deutsch sprach, hatte ihn schließlich zustimmen lassen.
Es war Madeleine in der Nacht gerade noch gelungen, Monsieur Bruno von ihrem bevorstehenden Aufbruch zu benachrichtigen. Sie hätte keine Wahl gehabt, sich gegen die Reise zu wehren, behauptete sie ihm gegenüber und hatte die Verzweifelte gespielt. Sie wusste, wie viel davon abhing, dass der Chirurg ihr glaubte. Am Ende hatte Bruno ihr sogar zugeredet. Er würde es schaffen, Lebrun trotz des toten Krämers auf irgendeinem Weg darüber zu informieren, und man würde wieder mit ihr Verbindung aufnehmen.
Sie betrachtete den milchigen Schleier, der über der Landschaft lag und ihr etwas Märchenhaftes gab, und hoffte inständig, dass es zu Letzterem nie kommen würde. Die Reise schien ihr – trotz aller Unsicherheiten, die sie erwarteten – noch immer wie ein Geschenk. Dabei war sie überrascht gewesen, als Nicolas ihr erzählte, dass ihre Reise sie ausgerechnet in die Pfalz führte, nach Zweibrücken, dorthin, wo sie geboren war. Einen kurzen Moment hatte sie gezögert, weil sie an ihre Großmutter denken musste, doch dann hatte sie sich gefreut, an den Ort ihrer Kindheit zurückzukehren, der für sie vor allem mit ihrer Mutter verbunden war.
112
D er Brief war mit fast drei Monaten Verspätung angekommen. Die knittrige Struktur des faserigen Papiers zeigte deutlich die Spuren der langen Reise, aber die geschwungene Schrift des Her zogs d’Alava war noch deutlich zu erkennen. San Lorenzos Mund wurde schmal, als er die Zeilen erneut las.
Ich habe in äußerster Unruhe die letzte Neuigkeit von Euch vernommen. Ihr müsst sie aus dem Weg schaffen. Sofort. Sie war in den Monaten nach ihrer Flucht
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