Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
mitgenommen. In den kommenden Tagen sollte es Eis und Schnee geben, hatte einer der Edelleute behauptet. Wie kalt mochte es dann wohl erst in der Burg sein? Sie bog um die Ecke und erkannte das große Wandgemälde – ein Ahnenporträt – wieder, an dem sie auf dem Hinweg vorbeigekommen war. Also war sie richtig gegangen.
Kurz darauf erreichte sie ihr Gemach. Sie wollte gerade die Klinke hinunterdrücken, als sie hinter sich ein Geräusch hörte. Sie drehte sich um und konnte im Dunkeln am Ende des Flurs die Umrisse einer großen kräftigen Männergestalt erkennen. Bewegungslos stand sie dort.
Madeleines Herz klopfte.
Dann drehte sich die Gestalt zu ihrer Erleichterung jedoch um und verschwand wieder in der Dunkelheit.
Eilig drückte sie die Klinke hinunter und schloss die Tür hinter sich. Es war bestimmt nur eine Wache oder ein Diener gewesen. Wahrscheinlich hatte er ihre Schritte gehört und wollte nach dem Rechten sehen. Doch sie spürte, dass ein leises Gefühl der Beunruhigung in ihr blieb, und war dankbar, dass ihr Gemach über einen Riegel verfügte.
115
E inige Wochen waren vergangen. Nicolas und der Herzog von Zweibrücken waren mit der Truppenerhebung beschäftigt und es war kalt geworden – bitterkalt. Dennoch hatte es die Männer, die am Abend die Burg erreichten, nicht daran gehindert, nach Zweibrücken zu kommen. Das Gesicht des Ankömmlings, der in Begleitung zweier Knechte und eines Gehilfen anreiste, war noch immer gerötet, als er von dem Herzog von Zweibrücken mit der ihm eigenen Herzlichkeit begrüßt wurde. Selbst Nicolas umarmte ihn, ohne zu ahnen, wen er da vor sich hatte.
»Monsieur de Coligny und seine Hoheit, der Prinz de Condé, schicken mich als Ausdruck ihrer Sorge um Euer Wohlbefinden«, sagte Doktor Bruno mit einer untertänigen Verbeugung. »Nicht dass die Fähigkeiten meiner bescheidenen Person an die Kompetenzen Eures Leibarztes heranreichen könnten, aber der Admiral und Prinz hoffen, dass eine weitere Meinung, was Euer Bein angeht, vielleicht hilfreich sein könnte!«
Entgeistert beobachtete Madeleine die Szene. Sie konnte nicht glauben, dass Monsieur Bruno tatsächlich nach Zweibrücken gekommen war. Nun würde alles wieder von vorn beginnen. Nur mit Mühe gelang es ihr, sich ihren inneren Aufruhr und ihrer Verzweiflung nicht anmerken zu lassen.
»Ein Arzt mehr kann nie schaden, das stimmt wohl«, erwiderte der Herzog mit seiner dröhnenden Stimme. »Und wie ich hörte, seid Ihr auch Chirurg, Monsieur Bruno, nicht wahr?«, setzte er hinzu.
Madeleine wandte sich ab, als sie sah, wie Doktor Bruno mit Nicolas, Francourt und zwei anderen Herren, die sich mit ihnen im Saal befanden, einige Worte wechselte.
Schließlich stand er vor ihr. »Mademoiselle Kolb! Wie schön, Sie wiederzusehen … Ich hoffe, es geht Euch gut?«
Madeleine warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Weit besser, bevor Ihr kamt!«, brachte sie zwischen ihren zusammengepressten Lippen hervor und blickte an ihm vorbei zu den anderen Gästen.
Er nippte an dem Wein, den ihm einer der Diener gereicht hatte, und lächelte milde. »Ich verstehe Euch. Ich war auch einmal wie Ihr. Damals, am Anfang vor vielen Jahren, habe ich den gleichen Widerwillen wie Ihr verspürt«, erklärte er.
Sie schwieg. Vor Jahren? Die Vorstellung, dass man sie für unbestimmte Zeit in der Zukunft zu diesen Spitzeldiensten zwingen könnte, war ihr unerträglich. Zu ihrer Erleichterung bemerkte sie, dass Nicolas sich von seinen Gesprächspartnern abwandte und zu ihr kam.
»Nun, wir werden uns sicher noch später unterhalten«, sagte Monsieur Bruno. Er nickte ihr zu und schlenderte zu seinen Begleitern hinüber.
»Geht es dir gut?«, fragte Nicolas fürsorglich. »Du bist etwas blass!«
Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Mir war nur etwas unwohl, aber jetzt geht es wieder«, erwiderte sie.
Von nun an musste sie dem Chirurgen wieder regelmäßig ihre Berichte aushändigen. Einer seiner Knechte brachte sie bis kurz vor die französische Grenze, wo sie ein weiterer Bote in Empfang nahm und von dort aus vermutlich direkt nach Paris brachte. Madeleine verspürte ein ohnmächtiges Gefühl, wenn sie nur daran dachte.
Nicolas war unentwegt mit dem Herzog unterwegs, um die Musterung der Soldaten zu überwachen. Die Truppenerhebung machte Fortschritte. Landsknechte und Heckenschützen kamen auch aus anderen Landesteilen, um sich anheuern zu lassen, und nach und nach versammelten sich in der Südpfalz zahlreiche Kriegsleute.
Am
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