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Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Titel: Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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bekreuzigt?«, fragte er.
    Sie schüttelte den Kopf. Die Geste, die die Protestanten ablehnten, weil die Bekreuzigung keine in der Bibel erwähnte Glaubenspraxis war, war spontan und rein intuitiv von ihr ausgeführt worden. Es war etwas, das sie früher Hunderte von Malen bei ihrer Mutter und später bei den Nonnen im Kloster gesehen hatte, wenn diese sich fürchteten – und das ihnen jetzt vermutlich das Leben gerettet hatte.

114
    Z wei Wochen später erreichten sie die Pfalz. Kurz vor der Grenze hatten sie sich von Clément und Guillaume getrennt. Der Abschied war Madeleine schwergefallen. »Passt auf euch auf«, sagte sie mit Tränen in den Augen, denn ihr wurde bewusst, dass die beiden nun mit den Truppen des Prinzen d’Orange in den Krieg ziehen würden.
    Sie und Nicolas waren danach weiter nach Zweibrücken geritten. Es war seltsam, deutsche Worte um sich zu hören. Der Klang der Sprache rief Erinnerungen an ihre Mutter wach, doch Zweibrücken selbst schien ihr fremd. In ihrem Kopf ließen sich keine Bilder von früher finden. Nicht einmal die mächtige mittelalterliche Burg, die oberhalb einer Flussschleife des Schwarzbachs lag und nur über zwei Brücken erreichbar war, kam ihr bekannt vor.
    Kurz nach ihrer Ankunft empfing sie dort der Pfalzgraf und Herzog Wolfgang von Zweibrücken. Er war ein kräftiger, ein wenig korpulent wirkender Mann um die vierzig, der rote Seidenstrümpfe, eine gebauschte Hose von ebensolcher Farbe, ein gelbes Wams und einen halblangen pelzgefütterten Umhang trug. Madeleine sah, dass er auf der einen Seite leicht hinkte, als er auf sie zukam.
    »Eine alte Verletzung, die leider nicht richtig heilen will und mich immer wieder fiebern lässt«, erklärte er mit dröhnender Stimme, nachdem er sie voller Herzlichkeit begrüßt hatte und die Schreiben entgegennahm, die ihm Nicolas von Coligny und Condé überreichte.
    Der Herzog bat sie in den Festsaal, um mit ihm und seinem Gefolge zu speisen.
    »Man hört selbst bei uns, wie übel es den Hugenotten in Frank reich ergeht. In der Südpfalz kommen immer mehr Flüchtlinge aus Eurem Land an«, sagte der Fürst, als sie dort mit zahlreichen anderen Menschen an einer Tafel Platz nahmen und ihnen ein üppiges Mahl aufgetischt wurde. Auch der französische Agent Francourt, etliche deutsche Adlige und die Gemahlin des Fürsten, Herzogin Anna von Zweibrücken, befanden sich unter ihnen.
    Als Madeleine der Fürstin vorgestellt wurde, hatte diese verwundert ihren bürgerlichen Namen vernommen. »Kolb?«, sagte sie. Dabei zog sie herablassend eine ihrer zarten Augenbrauen in dem rundlichen Gesicht hoch, und ihr Blick war an dem schlichten Kleid heruntergeglitten. Gegen ihren Willen fühlte sich Ma deleine verletzt, und das Verhalten der Fürstin rief ihr wieder ein mal in Erinnerung, aus welch unterschiedlichen Welten sie und Nicolas stammten.
    Schweigend hörte sie jetzt den Gesprächen am Tisch zu, die um die Lehren von Luther und Calvin kreisten.
    »Wir legen bei uns Wert darauf, dass jeder im Volk lesen lernt. Wie soll man sonst ein guter Protestant und Christ sein, wenn man nicht einmal die Schrift des Herrn verstehen kann?«, sagte der Herzog. Nicolas stimmte ihm zu – er sprach zu Madeleines Überraschung Deutsch, gebrochen zwar, aber so, dass er ohne Schwierigkeiten eine Unterhaltung führen konnte. Auch der Admiral de Coligny teile diese Meinung, erzählte er.
    Madeleine hörte dem Gespräch nur am Rande zu, denn der Anblick der üppigen Essensberge ließ sie eine leichte Übelkeit verspüren, und sie war froh, als sich die Anwesenden endlich von der Tafel erhoben. Nicolas stand mit Francourt, dem Herzog und einigen anderen deutschen Edelleuten im Gespräch vertieft zusammen, und so murmelte sie eine Entschuldigung in Richtung ihres Tischherrn – eines alten schwerhörigen Freiherrn – und flüchtete aus dem Festsaal.
    Erleichtert trat sie nach draußen in den düsteren Flur, der nur von dem Schein zweier lodernder Fackeln erhellt wurde. Ein Diener eilte an ihr vorbei, und sie musste einen Moment überlegen, in welcher Richtung die Gemächer lagen, die man ihr und Nicolas in der Burg zugewiesen hatte. Zögernd wandte sie sich nach links. Nach einigen Schritten stellte sie jedoch fest, dass sie falsch gegangen war, und kehrte wieder um. Sie fröstelte. Im Festsaal hatte das große Feuer des Kamins eine wohlige Wärme verbreitet, doch hier in dem steinernen Gang war es kalt und zugig. Madeleine wünschte, sie hätte ihren Umhang

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