Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
bei der Medici, wie wir inzwischen erfahren haben. Ich brauche Euch nicht zu erklären, was das bedeutet.
Er ließ das Papier in seiner Hand nach unten sinken. Nein, das brauchte er nicht. Dieses Biest – sie hatten sie alle unterschätzt, dachte San Lorenzo grimmig. Nun ergab alles auf einmal einen Sinn. Er dachte an den Brief, den er beim Krämer gefunden hatte. Er war verschlüsselt gewesen – auf den ersten Blick ging es nur um Belanglosigkeiten wie das Wetter und die Landschaft, aber die Wiederholungen hatten keinen Zweifel daran gelassen, dass mit den Zeilen ein anderer Inhalt transportiert wurde.
Ihre ganze unschuldige Art – alles war nur gespielt.
Wäre der Brief nur zwei Tage früher gekommen! Wie leicht wäre es gewesen, ihre Leiche hier in La Rochelle irgendwo im Meer verschwinden zu lassen! Aber jetzt? Er war zu spät gekommen. Als er sich in der Nacht in ihr Zimmer geschlichen hatte, war sie schon fort gewesen. Sie hatte La Rochelle zusammen mit Vardes verlassen. Die beiden waren auf dem Weg in die Pfalz. San Lorenzo faltete mit kalter Miene das Papier zusammen, während sich in seinem Kopf ein Plan zu formen begann. Es gab jemanden aus früheren Jahren – einen Mann, den er dort kannte.
113
W ährend der ersten Tage, auf dem Weg durch das Poitou, hatten sie sich weitestgehend in Sicherheit befunden. Schon im September und Oktober hatten die Hugenotten begonnen, die Städte im Vorland von La Rochelle in ihre Hand zu bringen und dadurch eine breite Verteidigungsfront gen Westen geschaffen. Sie gelangten daher ohne besondere Vorkommnisse bis zum Ufer der Vienne.
»Wenn wir den Fluss überquert haben, wird alles anders sein. Die katholischen Truppen befinden sich von Süden und Norden aus auf dem Weg nach Poitou. Wir können jederzeit auf Soldaten von ihnen treffen«, erklärte Nicolas.
Madeleine nickte. Die Männer würden sich deshalb ebenfalls als Katholiken ausgeben, wie er ihr erklärt hatte.
Nicolas hatte sich zu Guillaume gewandt. »Und du – wenn man uns irgendwelche Fragen stellt, sage nichts. Dein niederländischer Akzent könnte uns sofort verraten!«
»Aber es gibt doch auch niederländische Katholiken!«, widersprach Guillaume.
»Ja, aber nicht hier in Frankreich … Solltest du etwas sagen müssen, du bist ein Cousin von Madeleine, aus dem niederländischen Zweig ihrer Familie, der nach dem Tod seiner Eltern zu uns nach Toulouse gekommen ist, um uns in unserem Tuchhandel zu helfen«, erwiderte Nicolas.
Dann überquerten sie den Fluss. Von nun an mieden sie die Städte und größeren Orte und reisten übers Land – vorbei an weiten Feldern, kleinen Dörfern und Siedlungen. Beklommen sah Madeleine dort die Armut der Menschen, in deren Gesichtern sich die Angst vor dem neuen Bürgerkrieg spiegelte. Überall hatten die Bewohner begonnen, eine eigene Miliz aufzustellen, obgleich die Waffen bei vielen aus kaum mehr als ein paar Stöcken und selbst geschnitzten Lanzen bestanden. Auch in den kleinsten Orten wurden Gräben ausgehoben und Mauern verstärkt, um sich verteidigen zu können.
»Gott gebe, dass man diesem Coligny endlich die Kehle durchschneidet und ihn und sein Ketzerpack auf den Scheiterhaufen schickt. Nur Krieg und Zerstörung haben sie über unser Land gebracht«, sagte der Wirt in einem heruntergekommenen Gasthaus, in dem sie am Abend Quartier bezogen. Wie zur Bekräftigung spuckte er auf den Boden.
Madeleine bekam mit, wie Guillaumes Hand am Tisch mit angespannter Miene unter den Umhang glitt. Der Wirt, der nichts zu merken schien, wandte sich zu Nicolas. »Ihr seid mutig, Herr, dass Ihr mit einer so jungen und hübschen Gemahlin in diesen Zeiten eine solche Reise nach Deutschland wagt!«
Nicolas nickte. »Wir hoffen, dass wir dort einige Zeit bleiben können, bis der Krieg hier vorbei ist«, erwiderte er ruhig. Madeleine zwang sich zu einem Lächeln, doch sie war froh, als sie wenig später die ächzende Holzstiege zu ihrem Zimmer, einer engen, spärlich möblierten Kammer, hochstiegen. Da Nicolas und sie als Ehepaar reisten, mussten sie die Nacht nun auch offiziell in einem Zimmer verbringen und waren zu keinen Heimlichkeiten mehr gezwungen.
Durch das kleine Fenster schaute sie nach draußen in den nachtschwarzen Himmel. »Darf ich dich etwas fragen? Warum bist du eigentlich Protestant geworden?«, fragte sie unerwartet.
Nicolas, der seinen verstaubten Umhang abgelegt hatte und dabei war, seinen Kragen zu lockern, drehte sich zu ihr. Er ließ die Hand nach
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