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Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Titel: Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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Nachmittag verließ Madeleine die Burg, sie brauchte einen Augenblick Ruhe, um nachdenken zu können. Auf dem Weg in die Stadt fragte sie sich, wann sie wohl nach Frankreich zurückkehren würden. Das Wetter ließ daran zumindest vorerst nicht denken. Feiner Schnee trieb seit Stunden durch die Straßen und hatte alles in ein zartes Weiß gehüllt – die Dächer und Giebel der Häuser, die Äste der Bäume genauso wie die Mauern der Stadt und die Burg. Ihre Wangen waren von der Kälte gerötet, und sie hatte die Kapuze ihres Umhangs über den Kopf gezogen. Die frische Luft tat ihr gut. Sie betrachtete das Spiel der tanzenden weißen Flocken. Beklommen dachte sie an die zurückliegende Nacht. Der Traum war zurückgekommen. Nach vielen Wochen war er ihr wieder erschienen. Es war gespenstisch gewesen. Sie war durch die Straßen gelaufen und hatte im Blutbad zwischen den Kämpfenden nach Nicolas gesucht. Schließlich war sie aufgewacht und hatte gemerkt, dass er sie in seine Arme gezogen hatte. Zum ersten Mal hatte sie danach geweint. Es würde passieren … Seitdem sie mit Lebrun durch die Straßen von Paris gelaufen war, wusste sie es, und sie fragte sich, ob das Schicksal ihr die Möglichkeit geben würde, das Schreckliche zu verhindern.
    Ihr Blick glitt an den Häusern entlang. Es verwunderte sie noch immer, dass ihr so wenig in Zweibrücken vertraut vorkam. Sie erinnerte sich nicht einmal daran, wo sie und ihre Mutter früher gewohnt hatten.
    Madeleine hatte bereits die nächste Straßenecke erreicht, als sie bemerkte, dass überall Menschen an ihr vorbeiströmten. Überrascht sah sie, dass sie alle in die gleiche Richtung liefen. Weiter vorn, dort, wo die Straße auf den Marktplatz führte, musste es irgendeine Attraktion geben. Vielleicht ein Jahrmarkt mit Gauklern, die trotz des schlechten Wetters hier haltgemacht hatten? Von plötzlicher Neugier getrieben, schloss sie sich dem Menschen strom an und beschleunigte ihren Schritt. Auf dem Marktplatz hatte sich bereits eine Menge versammelt. Händler mit Bauchläden verkauften heiße Backwaren und Getränke. Madeleine blickte sich suchend um. Plötzlich ging ein Ruck durch die Menschen. Die Leute drängten sich unter Geraune und Rufen zur Mitte des Platzes.
    »Da!«
    »Sie bringen ihn!«
    Die Köpfe der Menschen versperrten Madeleine im ersten Moment die Sicht. Dann sah sie das Podest mit dem Galgen und begriff entsetzt, dass es eine Hinrichtung war, zu der die Leute gekommen waren. Ein Scharfrichter war die Stufen hochgestiegen, gefolgt von zwei Soldaten, die in ihrer Mitte einen Mann mit sich zerrten.
    Madeleine wollte sich voller Grauen abwenden, doch sie war eingekeilt zwischen den Menschen und konnte sich weder vor noch zurück bewegen.
    Oben auf dem Podest hatte man den Verurteilten inzwischen zum Galgen gebracht. Er war jung, höchstens Anfang zwanzig. Schneebälle und sogar Steine flogen durch die Luft.
    »Mörder!«
    »Du Schwein!«
    »Hängen sollst du!«
    Madeleine wandte sich mit zittrigen Knien zu der Frau neben sich. »Was hat er getan?«
    »Einen umgebracht hat er und sein Geld gestohlen!«, erklärte sie empört. »Bist ja ganz blass, mein Kind. Noch nie eine Hinrichtung gesehen, was?«
    Doch Madeleine antwortete ihr nicht, sondern starrte zu dem Unglücklichen oben auf dem Podest, den gerade zwei Schneebälle getroffen hatten. Zwei feuchte Flecke zeigten sich auf seinem Hemd. Entsetzt blickte der Verurteilte zu der Menge.
    Madeleine hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Ein Bild schob sich vor ihre Augen, und sie musste plötzlich an ihre Großmutter denken. Schaudernd ging ihr auf, dass sie wahrscheinlich auch hier auf diesem Marktplatz hingerichtet worden war. Sie sah den lodernden Scheiterhaufen vor sich und die Menge, die damals vermutlich ebenso geschrien und gebrüllt hatte wie jetzt. Madeleines Gedanken wandten sich der Vergangenheit zu, und sie nahm weder wahr, wie man dem Verurteilten vor ihr eine Schlinge um den Hals legte, noch, wie die Menschen begeistert johlten, als sich die Falltür öffnete und der Körper des Mannes kurz zappelte, bevor er auch schon leblos in der Schlinge hing. Nichts davon sah sie. Stattdessen erblickte sie eine Frau, die oben auf dem Podest an einen Pfahl gebunden wurde, um den man Holzscheite und Reisigbündel geschichtet hatte. Ihr Blick war offen und klar gen Himmel gerichtet, und ihr langes Hemd flatterte im Wind. Fast schien es, als würde sie lächeln. Magdalena, eines Tages wirst du dich an mich

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