Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
erinnern! Sie konnte ihre Stimme so deutlich hören, als würde sie neben ihr stehen. Wann hatte sie das gesagt? … Und dann erinnerte sich Madeleine wieder. Irgendwo aus den Tiefen ihres Bewusstseins tauchte die Situation von damals wieder vor ihr auf. Sie schloss die Augen. Man hatte ihre Mutter und sie noch einmal zu ihr gelassen – es war in einem dunklen Verlies gewesen. Ihre Großmutter hatte sich zu ihr gebeugt und ihr lächelnd über die Wange gestrichen. Dann hatte sie sich zu ihrer Mutter gewandt und ihr etwas gegeben. »Behalt es – für sie! Ich bitte dich darum. Sie wird es eines Tages brauchen!« Es war die Kette mit dem Anhänger gewesen. Madeleine konnte den orangefarbenen Stein vor sich sehen. Sie wusste nicht, warum sie sich mit einem Mal wieder dessen entsann. Der Schnee trieb ihr ins Gesicht, und Madeleine fühlte sich wie benommen. Um sie herum begannen sich die Menschen wieder zu zerstreuen. Der aufgepeitschten Stimmung war eine jähe betretene Stille gefolgt. Man hatte den Toten vom Galgen geholt und auf einen Karren geladen. Ihr wurde schwindlig. Keuchend suchte sie an einer Häuserwand Halt. Irgendwo von weit her waren die Hufe eines Pferdes zu hören.
»Madeleine!«
Schritte kamen auf sie zu, dann spürte sie nur noch, wie sie zwei starke Arme umfingen. Sie erkannte Nicolas’ besorgtes Gesicht. »Was machst du hier? Ich habe dich überall gesucht. Hast du etwa die Hinrichtung gesehen?«
Sie zitterte. »Meine Großmutter … sie haben sie verbrannt als Hexe. Hier in dieser Stadt«, stieß sie hervor.
Nicolas blickte sie entsetzt an.
»Ich habe mich erinnert. An früher. Wie ich sie das letzte Mal gesehen habe.« Sie weinte plötzlich, und er zog sie in seine Arme.
»Niemand wird dir jemals etwas tun, das verspreche ich dir, Madeleine!«
Doch sie konnte nicht aufhören zu weinen. Ohne etwas zu sagen, führte er sie mit sich zu seinem Pferd und hob sie hoch, um mit ihr zurück zur Burg zu reiten.
»Woher weißt du das mit deiner Großmutter?«, fragte er sanft, als sie zurück in ihrem Gemach waren.
Sie konnte die ehrliche Antwort, die spontan über ihre Lippen wollte, und das Wort Lebrun gerade noch rechtzeitig herunterschlucken. Es war das erste Mal, dass sie sich fast verraten hätte. »Meine Mutter hat es mir erzählt«, log sie schließlich.
»Das heißt, deine Großmutter hatte auch Visionen?«, fragte er nachdenklich.
»Meine Mutter hat es nie gesagt, aber ich nehme es an.«
Einen Moment lang schwieg er. Ein schiefes Lächeln glitt über sein Gesicht. »Als ich dich gebeten habe mitzukommen, habe ich gedacht, dass es vielleicht gut für dich sein könnte hierherzukommen. Das mit deiner Großmutter habe ich nicht gewusst. Ich hoffe, du bereust diese Reise jetzt nicht?«
Madeleine schüttelte den Kopf. »Nein, es war wichtig für mich.« Sie wollte noch etwas sagen, doch Nicolas hatte sich bereits erhoben.
»Ich werde einem Diener Bescheid geben, dass er dir etwas Heißes zu trinken bringen soll. Du siehst ganz durchgefroren aus. Der Herzog erwartet mich leider«, erklärte er.
Sie nickte. Als er gegangen war, dachte sie über den seltsamen Nachmittag nach. Nachdenklich spielten ihre Finger mit dem Anhänger um ihren Hals. Sie wird es eines Tages brauchen!
Kurz darauf klopfte es an ihrer Tür, und ein Diener kam herein. Er trug ein Tablett, auf dem sich eine dampfende Kanne und eine Tasse befanden.
»Danke!«, sagte sie.
Der Diener neigte höflich den Kopf und griff nach der Kanne. Sie hatte sein Gesicht noch nie gesehen, fiel Madeleine auf, während sie wieder nach ihrem Umhang griff, den sie auf dem Schemel abgelegt hatte. Ihr war tatsächlich noch immer kalt, stellte sie fest. Als sie das Kleidungsstück über ihre Schultern legte, schaute sie für einen kurzen Moment in den Spiegel. Überrascht sah sie, dass der Diener die Kanne zur Seite gestellt hatte und plötzlich eine dünne Schnur in den Händen hielt. Sie wollte herumfahren, aber er hatte ihren Blick schon bemerkt. Blitzschnell war er mit erhobenen Händen bei ihr. Bevor sie begriff, was geschah, spürte sie voller Panik, wie er die Schnur um ihren Hals schlang und so schmerzhaft fest zuschnürte, dass sie ihr die Luft zum Atmen nahm. Sie keuchte und versuchte, sich zu wehren und mit ihren Fingern nach der Schnur zu greifen, doch der Mann war um ein Vielfaches stärker als sie. Unbarmherzig zog er fester zu. Madeleine trat in Todesangst um sich, aber sie erreichte nur, dass sie einen Schritt durch den Raum
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